Der Gefangene der Wüste
Sohn, gesprochen. Er erwartet Sie.«
»Was sagen Sie nun, Cathérine?« Dr. Bender streckte Saada beide Hände entgegen. »Ich danke Ihnen, mademoiselle.«
»Ich heiße Saada Aisha Sinah. Aber ich werde nur Saada gerufen.«
»Drei Namen wie Musik.«
»Ihr Vater wird Sie auspeitschen, wenn er davon erfährt«, sagte Cathérine laut.
»Er wird es nie erfahren! Wo liegt der Kranke, Saada?«
»Hinter dieser Mauer, docteur. Kommen Sie –«
Sie schob ein paar lose Steine aus dem alten Mauerwerk, und ein Loch wurde frei, groß genug, um bequem hindurchzusteigen. Ein verwilderter Garten mit verfilzten Büschen nahm sie auf … im Hintergrund, zu einer Nebenstraße hin, stand ein niedriges, von der Sonne gebleichtes Haus mit einem schiefen, eingebrochenen Dach. Dahinter ragte ein zweites, flaches Dach auf, auf dem an einer Leine Wäsche wehte. Zwei verschleierte Frauen saßen wie Lehmfiguren dazwischen, anscheinend unbeweglich.
»Das vordere ist Abdallahs Werkstatt«, sagte Saada und ergriff Dr. Benders Hand, als müsse sie ihn durch ein Labyrinth führen. »Dahinter auf dem Dach des Wohnhauses sitzen seine Frau und seine Tochter. Ali ist bei ihm im Haus und bewacht seine Schmerzen. Kommen Sie schnell, docteur –«
Abdallah ibn Rahman lag im Sterben.
Dr. Bender sah es sofort, als er in das halbdunkle, karg möblierte Zimmer trat. Die fahle, graue, stumpfe Haut, die blutleeren Lippen, die Erschlaffung aller Muskeln … Abdallah verblutete nach innen. Seine Magenwand war zerrissen, zerfressen von den unheimlichen Viren, die plötzlich in der Wüste aufgetaucht waren und von denen niemand wußte, woher sie kamen.
Ali, der Sohn, hockte neben Abdallah auf dem festgestampften Boden. Ein Teppich aus Palmfasern war alles, was den Raum wohnlich machte.
»Ist das der fremde Hakim?« fragte Ali und starrte Dr. Bender kritisch an. Seitdem er heimlich beobachtet hatte, wie der Hakim von Bou Akbir den stöhnenden Vater durch einen Hieb mit einem Holzhammer einschläferte, hatte er ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Medizin.
»Ja.« Saada nickte und winkte Ali, den Platz neben Abdallah frei zu machen. »Er wird dir helfen –«
»Ich fürchte, dazu ist es jetzt zu spät.« Dr. Bender kniete neben Abdallah auf die Palmmatte und schob die unteren Lider von den geschlossenen Augen.
Eine helle, fast weißliche Schleimhaut. Das gleiche im Mund, als er die Oberlippe hochklappte.
Totaler Blutverlust. Dafür schwappte es im Unterbauch, als sei er ein gefüllter Wassersack.
Abdallah spürte von all dem nichts mehr … er lag im Koma, und nur sein gutes Herz schlug noch, unregelmäßig und schwach, aber es arbeitete, solange noch ein Tropfen Blut zu pumpen war.
»Die Tasche –«
Cathérine reichte Dr. Bender die Arzttasche. Er klappte sie auf und entnahm ihr den Spritzenkasten. Mit hochgezogenen Brauen sah sie zu, wie er eine Spritze aufzog und dann die Nadel aufsteckte.
»Ich würde es nicht tun«, sagte sie.
»Warum?«
»Abdallah liegt im Sterben. Wenn Sie jetzt injizieren, wird man sagen, Sie hätten ihn getötet, denn Sie haben ihn als letzter angefaßt. Der Kerl, der hier Arzt spielt, wird alle Schuld auf Sie schieben. Warten Sie noch etwas … es wird sich alles von allein regeln …«
»Ich kann als Arzt nicht untätig herumsitzen und zusehen, wie jemand stirbt.«
»Können Sie ihm helfen?«
»Nein.«
»Hat er Schmerzen?«
»Jetzt nicht mehr.«
»Also, was wollen Sie noch?«
Dr. Bender erhob sich und legte die aufgezogene Spritze zurück in den Sterilkasten. »Sie bleiben mir ein Geheimnis, Cathérine –«
»Wollen Sie immer so schnell Klarheit? Wir kennen uns kaum vierundzwanzig Stunden.«
»Warum tut er nichts?« fragte Ali im Berberdialekt Saada. »Er steht auch nur herum wie unser Hakim.«
»Es ist zu spät, Ali.« Saada kniete neben dem sterbenden Abdallah, aber Dr. Bender riß sie zurück, so plötzlich, daß sie leise aufschrie.
»Nicht berühren! Es ist ansteckend. Sagen Sie Ali, daß ich ihm und allen Bewohnern des Hauses ein Serum spritzen muß. Ob es hilft, weiß ich nicht … wir haben noch keine Erfahrung damit. Um sie zu sammeln, bin ich ja hier. Sagen Sie ihnen, sie sollen keine Angst haben … ich will ihnen nur helfen.«
Eine Stunde später starb Abdallah ibn Rahman. Es war ein stilles Sterben … das Herz setzte einfach aus, es gab kein Blut zum Pumpen mehr in den großen Adern. Er starb allein, denn Dr. Bender impfte Saada, Ali, die Frau ibn Rahmans und die beiden Töchter, die
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