Der Gefangene der Wüste
irgendwoher aus den Winkeln des Hauses hervorkrochen wie blinde Hühner. Als alle zurück in das Wohnzimmer kamen, lag Abdallah erlöst auf der Palmblättermatratze. Sein farbloser Mund stand offen, und ein Schwarm dicker Fliegen umkreiste sein spitzes, zu einer Kindergröße zusammengeschrumpftes Gesicht.
»Ich brauche die Leiche«, sagte Dr. Bender später zu Saada. Im Zimmer klagten die Weiber laut neben dem Toten und erfüllten das Haus mit ihren schrillen Schreien. Es war keine echte Trauer, denn Abdallah war immer ein Tyrann gewesen, aber jetzt gönnte man ihm die ewige Ruhe und schrie laut im Chore, denn je lauter man einen Toten beweint, um so mehr rührt man das Herz Allahs und öffnet das Paradies.
»Was wollen Sie denn damit?« Cathérine ahnte, was Dr. Bender plante. Die Komplikationen, die daraus im Lager XI entstehen konnten, waren unüberblickbar.
»Ich will ihn genau untersuchen.«
»Obduzieren?«
»Ja.«
»Bei uns?«
»Natürlich. Ich werde eine Isolierstation einrichten. Alles ist vorbereitet. Ich nehme an, daß jetzt gerade einige Hubschrauber aus Hassi-Messaoud landen und alles Material ausladen. Ich habe von Algier einen kompletten kleinen OP mitgebracht. Daß ich direkt bei meiner Ankunft einen Hadjar-Fall vorfinde, ist ein ungeheures Glück. Ich kann sofort mit meiner Arbeit beginnen.«
»Wie Sie wollen!« Cathérine hob die Schultern. Die Bluse spannte sich dabei wieder über ihren Brüsten, und Dr. Bender stellte erneut fest, daß sie eigentlich sehr hübsch sein konnte, wenn sie mehr Wert auf ihr Äußeres legen würde. »Pierre wird Ihnen Schwierigkeiten machen, Doktor.«
»Serrat geht mich nichts an!«
»Unterschätzen Sie ihn nicht. Er ist in unserem Gebiet die Faust, gegen die niemand ankommt.«
In der Nacht geschah etwas Seltsames.
Ein Kamel, beladen mit einer Rolle aus Palmmatten, verließ die Oase Bou Akbir und trottete hinaus auf die Wüstenpiste. Ali saß vorne am Hals des Kamels, eingewickelt in seine dicke Dschellabah, und betete die Sterbesuren aus dem Koran.
Zehn Kilometer von Bou Akbir entfernt, wartete Dr. Bender mit einem kleinen Kastenwagen auf das einsame Kamel. Als es gegen den sternenübersäten Himmel auf dem Kamm der Sanddünen auftauchte, wie ein Holzschnitt gegen eine silberbesprenkelte Wand, winkte er dreimal kurz mit einer Taschenlampe.
»Er kommt tatsächlich«, sagte Cathérine, die im Wagen saß und trotz des dicken Pullovers in der kalten Wüstennacht fror.
»Ich habe ihm ja auch 400 Francs gegeben …«
»Was haben Sie?«
»Ich habe ihm den Vater abgekauft. Soviel hätte er selbst für den Lebenden nicht bekommen.«
»Jetzt bleiben Sie mir ein Rätsel, Doktor.«
»… weil wir uns erst vierunddreißig Stunden kennen!«
Er lächelte und ging Ali ein paar Meter entgegen. Das Kamel hob den Kopf und brüllte dumpf. Dann blieb es stehen und ging in die Knie … zuerst mit den Vorderbeinen, dann hinten. Ali sprang in den Sand und legte die Hand auf die Mattenrolle.
»Hier ist er, Hakim …«
»Danke, Ali.«
Dr. Bender gab ihm ein Bündel Geldscheine, die Ali schnell in seiner unsichtbaren Tasche unter seiner Dschellabah verschwinden ließ. Dann banden sie die Rolle vom Kamelsattel und trugen sie hinüber zum Wagen.
So kam Abdallah ibn Rahman auf die Station XI und wurde in eine elektrisch gekühlte Spezialwanne gelegt, eine Art Tiefkühltruhe, die ein paar Stunden vorher mit dem Hubschrauber in die totale Einsamkeit der Sandwüste geflogen worden war.
Der nächste Morgen brachte den Besuch Pierre Serrats in der Krankenbaracke. Dr. Bender saß gerade beim Frühstück, als die Tür aufflog und der Bulle von Mensch hereinkam, daß die Dielen zitterten.
»Was ist das nebenan?« bellte er ohne Begrüßung. »Isolierstation. Abgeschlossen! Merken Sie sich eins, Doktor: Bei mir gibt es keine abgeschlossenen Türen!«
»Aber die bleibt zu!« Dr. Bender lehnte sich zurück. »Und auch die Krankenbaracke wird nur von dem betreten, der krank ist!«
»Oho! Und wer bestimmt das?«
»Ich!«
»Einen Scheißdreck tun Sie!« Pierre Serrat warf die Tür mit einem Fußtritt zu, daß die Wände knirschten. »Was im Camp XI geschieht, bestimme ich!«
»Zuerst doch wohl Ingenieur de Navrimont –«
»O Gott! Den sehen wir nur viermal am Tag, wenn er auf den Lokus rennt.« Serrat baute sich breitbeinig vor Dr. Bender auf, ein Gebirge aus Fleisch und Knochen, das unüberwindbar schien. »Geben Sie den Schlüssel her!«
»Welchen?«
»Fragen Sie nicht so
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