Der Gefangene der Wüste
stand, das einzige, was sicher war: der Tod.
Saada hob den Kopf und schlang die Arme um Dr. Benders Hals. Ihr Herz zuckte, aber sie sprach es aus und bat Allah um Gnade, daß sie jetzt den eigenen Vater verriet.
»Der Überfall auf den Turm … es war mein Vater. Er glüht vor Rache.«
»Ich habe es mir fast gedacht. Aber warum bloß, warum? Was haben wir ihm getan? Wir suchen Öl, wir suchen für ihn das flüssige Gold, von dem das ganze Land profitiert. Er sollte uns dankbar sein.«
»Es geht nicht um das Öl, docteur … es geht um mich. Ich habe ihm erzählt, daß ich mit dir gesprochen habe.«
»Und er hat gesagt, daß er mich umbringt?«
»›Ich vernichte ihn‹, hat er geschrien. ›Ich vernichte ihn! Wegjagen wie einen Hund werde ich ihn! Solange er im Gebiet von Bou Akbir ist, werden die Ölquellen brennen!‹« Saada lehnte den Kopf an Benders Brust. Er spürte, wie heftig sie zitterte, und umfaßte sie. »Der Turm war nur der Anfang –«
»Dann bin ich es schuld, daß dieser Überfall stattgefunden hat?«
»Ja, docteur. Es wird erst Ruhe sein, wenn du weggezogen bist.«
»Das ist ja furchtbar.« Dr. Bender stand auf. Stumm, mit geballten Fäusten sah er zu, wie sich Saada ankleidete, das Hemd über den Kopf streifte, die weiße Reithose anzog und sich dann in die weite weiße Dschellabah hüllte. »Ich habe hier eine Aufgabe übernommen, Saada, ich habe einen Vertrag unterschrieben, ich muß die tödliche Hadjar-Krankheit untersuchen. Ich kann Bou Akbir nicht verlassen … nicht allein und nicht mit dir … Jetzt noch nicht.«
Saada nickte. Sie verstand. Der Traum, den Allah geschickt hatte, wurde immer wahrer. Ihr Herz verbrannte in seinen Händen … sie hatte es deutlich gesehen.
»Wie lange mußt du in der Wüste bleiben?«
»Ein ganzes Jahr.«
»Und dann?«
»Es liegt bei mir. Ich kann hier bleiben, ich kann zurück nach Algier … nach Marseille … nach Paris … oder nach Deutschland. Nach Dortmund.«
»Was ist Dortmund?«
»Eine große Stadt, Saada. Ein Meer von Häusern, höher als eure Palmen. In dieser Stadt leben mehr Menschen als bei euch in der ganzen Wüste. Tausende Autos schieben sich durch die Straßen, Fahrräder, Straßenbahnen, Omnibusse …«
»Was sind Straßenbahnen und Omnibusse, docteur …?«
»Ach, mein Liebling.« Er drückte sie wieder an sich und legte sein Kinn auf ihre Haare. »Wie kann man das alles in ein paar Worten erklären? Du wirst es sehen und dich einleben –«
»In einem Jahr?«
»Ja, Saada.«
Sie rieb das Gesicht an seiner Brust, und erst als sie sprach, begriff Bender, daß es ein heftiges Kopfschütteln war.
»In einem Jahr leben wir nicht mehr.«
»Was sagst du da?« Er hielt sie von sich weg, ihr Gesicht schwamm in der Dunkelheit, zerfließend in den Konturen, nur die Augen blieben groß und glänzend.
»Mein Vater wird dich töten«, sagte sie, als gäbe es gar nichts anderes mehr auf der Welt. »Und ich werde sterben, wenn du gestorben bist. Ich werde mir das Herz herausreißen und in den Sand werfen.«
»Das ist doch Wahnsinn! In welchem Zeitalter leben wir denn?« Dr. Bender riß sich von ihr los. Vom Ölturm näherten sich Stimmen. Ein Trupp Arbeiter zog an dem Schuppen vorbei zu den Wohnbaracken. »Man sollte deinen Vater der Distriktverwaltung melden. Sie wird ihn absetzen und verhaften.«
»Dann bin auch ich für dich verloren. Was Ali ben Achmed auch tut – er ist mein Vater.«
»Mein Gott, wie soll es denn da eine Lösung geben? Bleibe ich in Bou Akbir, brennen die Öltürme … gehe ich nach Europa zurück, verliere ich dich. Das ist ein Teufelskreis!«
»Du siehst … es gibt keinen Weg. Es war nur diese eine Nacht, die uns Allah schenkte. Sie bleibt in unseren Herzen.« Saada stellte sich auf die Fußspitzen, küßte Bender auf die Augen und schlug dann die Kapuze der Dschellabah über ihren Kopf. Ihr kleiner, brauner Arm zeigte in zwei Richtungen. »Du gehst dort weg … ich hier. Zwei Wege, die sich trennen, die nie zusammenführen, die immer weiter sich entfernen. Leb wohl, docteur … ich sage meinem Vater, daß ich dich hasse. Das wird ihn milde stimmen, es wird kein Turm mehr brennen, und du kannst dein Jahr in der Wüste arbeiten. Allah sei mit dir …«
Sie wirbelte herum, und ehe Dr. Bender etwas antworten konnte, war sie aus dem Schuppen geschlüpft.
»Saada!« rief er. »Das ist doch keine Lösung. Saada –«
Er rannte ihr nach, verfolgte sie an den Schuppen entlang, immer im tiefen Schatten
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