Der Gefangene
genießen diese freien Tage zwischen der Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit der Yankees und der Aussicht auf künftige Erfolge.
Fünfundzwanzig Jahre später als geplant erhob sich Ron Williamson von der Bank der Yankees und trat auf den Muschelsplittweg, der um das Spielfeld herumführt. Er hielt inne, um die ungeheure Größe des Stadions in sich aufzunehmen, die Atmosphäre im Allerheiligsten des Baseballs zu genießen. Es war ein strahlender Frühlingstag mit wolkenlosem, blauem Himmel. Die Luft war rein, die Sonne stand hoch am Himmel, der Rasen war eben und grün wie ein kostbarer Teppich. Die Sonne wärmte seine blasse Haut. Der Duft des frisch geschnittenen Grases erinnerte ihn an andere Felder, andere Spiele, andere Träume.
Er trug eine Yankee-Kappe, ein Souvenir, das er im Büro bekommen hatte. Da er im Licht der Öffentlichkeit stand und in New York in Good Morning America mit Diane Sawyer auftreten sollte, hatte er sein einziges Sportsakko an, den marineblauen Blazer, den ihm Annette zwei Wochen zuvor in aller Eile gekauft hatte, seine einzige Krawatte und eine locker geschnittene Hose. Die Schuhe waren allerdings nicht mehr dieselben. Er hatte das Interesse an Mode verloren. Obwohl er einmal als Verkäufer bei einem Herrenausstatter gearbeitet und andere bei der Wahl ihrer Kleidung beraten hatte, war ihm das jetzt völlig egal. So kann es gehen, wenn man zwölf Jahre lang in Gefängniskleidung steckt.
Unter der Kappe quoll dichtes weißgraues Haar hervor, das ungekämmt wirkte und offenbar mit dem Kochtopf geschnitten worden war. Ron war mittlerweile sechsundvierzig, sah jedoch viel älter aus. Er rückte die Kappe zurecht, bevor er den Rasen betrat. Mit seiner Größe von über einem Meter achtzig ließ er immer noch den großen Sportler ahnen, der er einmal gewesen war, obwohl er und andere in den letzten zwanzig Jahren nicht gerade pfleglich mit seinem Körper umgegangen waren. Er schlenderte über das Foul Territory, überquerte den Base Path und ging zum Werferhügel. Dort blieb er einen Augenblick lang stehen und sah zu den endlosen Reihen hellblauer Sitze hinauf. Vorsichtig setzte er den Fuß auf das Wurfmal. Dann schüttelte er den Kopf. Von genau diesem Punkt aus war Don Larsen der perfekte Wurf gelungen. Whitey Ford, eines seiner Idole, hatte diesen Hügel beherrscht. Er blickte über die linke Schulter auf das Right Field, wo die Mauer viel zu nah schien. Roger Maris hatte viele Bälle gerade so weit geschlagen, dass sie nicht über den Zaun gingen. In der Ferne jenseits der Mauer konnte er die Denkmäler erkennen, die man den großen Yankees gesetzt hatte.
Unter ihnen war auch Mickey Mantle.
Mark Barrett, der ebenfalls eine Yankee-Kappe trug, stand an der Home Plate und überlegte, was sich sein Mandant wohl dachte. Da wird ein Mann aus dem Gefängnis entlassen, nachdem er für nichts zwölf Jahre abgesessen hat. Es gibt keine Entschuldigung, weil niemand die Courage hat, seine Fehler einzugestehen, keinen Abschied. Hauptsache, er verschwindet so schnell und so unauffällig wie möglich. Keine Entschädigung, keine psychologische Betreuung, kein Schreiben vom Gouverneur oder irgendeiner anderen offiziellen Stelle, keine lobende Erwähnung für der Öffentlichkeit geleistete Dienst. Zwei Wochen später findet sich dieser Mann mitten im Medienrummel wieder. Jeder will etwas von ihm.
Bemerkenswerterweise hegte Ron keinen Groll. Er und Dennis waren zu sehr damit beschäftigt, ihre neue Freiheit zu genießen. Die Verbitterung würde später kommen, lange nachdem die Medien das Interesse verloren hatten.
Barry Scheck unterhielt sich in der Nähe der Reservebank mit verschiedenen Leuten, aber auch er beobachtete Ron. Als leidenschaftlicher Yankee-Fan hatte er telefonisch eine Sonderführung durch das Stadion organisiert. Die anderen waren für ein paar Tage bei ihm in New York zu Gast.
Es wurde fotografiert, ein Kamerateam filmte Ron auf dem Werferhügel. Dann ging die kleine Tour entlang der First-Base-Linie weiter. Der Führer sprach über die verschiedenen Yankee-Spieler. Ron kannte viele der Zahlen und Anekdoten. Kein Baseball war jemals aus dem Yankee-Stadion herausgeschlagen worden, obwohl Mickey Mantle dicht dran gewesen war. »Der ist da oben im rechten Center Field gegen die Fassade geknallt«, sagte er und deutete auf die Stelle, die über hundertsechzig Meter von der Home Plate entfernt war. »Aber der in Washington ging noch weiter«, fuhr Ron fort. »Das waren mehr als
Weitere Kostenlose Bücher