Der Gefangene
Verlauf seiner Baseballkarriere deprimierte ihn, er zog es vor, nicht darüber zu reden. Beim einen Telefonat wirkte er niedergeschlagen und mitleiderregend, beim nächsten aufgekratzt und jovial.
Die Familie wusste, dass er trank, und es gab ernst zu nehmende Gerüchte, dass er auch Drogen nahm. Vielleicht hatten der Alkohol und andere Substanzen sein inneres Gleichgewicht durcheinandergebracht und waren auch für seine abrupten Stimmungsschwankungen verantwortlich. Annette und Juanita fragten so dezent wie möglich, bekamen aber nur giftige Antworten.
Dann wurde bei Roy Williamson Krebs diagnostiziert, und Rons Probleme verloren an Bedeutung. Der Tumor saß im Grimmdarm und wuchs schnell. Obwohl Ronnie immer eher ein Muttersöhnchen gewesen war, liebte und respektierte er seinen Vater. Und er litt an Schuldgefühlen wegen seines Benehmens. Er ging nicht mehr in die Kirche und hatte ernsthafte Probleme mit dem Glauben, hielt aber an der Auffassung seiner Pfingstkirche fest, dass Sünden bestraft würden. Sein Vater hatte ein anständiges Leben geführt, wurde nun aber wegen der zahllosen Sünden seines Sohnes bestraft. Roys sich verschlechternder Gesundheitszustand verschärfte Rons Depression. Er warf sich seinen Egoismus vor. Was hatte er nicht alles von seinen Eltern gefordert - schicke Klamotten, teure Sportausrüstungen, Trainingslager, Ausflüge zu Baseballspielen, den Umzug nach Asher. Und für das alles hatte er sich nur mit einem Farbfernseher bedankt, bezahlt mit dem Geld, das er von den Oakland Athletics für die Vertragsunterzeichnung bekommen hatte. Er erinnerte sich, wie sein Vater heimlich Secondhandkleidung gekauft hatte, damit sein verwöhnter Sohn auf der Highschool die besten Klamotten tragen konnte. Dann wieder sah er, wie Roy sich bei großer Hitze mit dem schweren Musterkoffer über die Bürgersteige von Ada schleppte, um Vanille und Gewürze zu verkaufen. Schließlich das Bild seines Vaters auf der Tribüne, von wo aus er jedem Highschool-Spiel seines Sohnes zugeschaut hatte.
Zu Beginn des Jahres 1978 sollte Roy in Oklahoma City operiert werden, aber der Tumor war schon so groß und die Metastasen so zahlreich, dass die Chirurgen nichts mehr tun konnten. Er lehnte eine Chemotherapie ab und kehrte nach Ada zurück, wo ihm ein schmerzhafter Verfall bevorstand. Während seiner letzten Tage kam Ron aus Tulsa nach Hause und saß gedankenverloren und weinend am Bett seines Vaters. Er entschuldigte sich mehrfach und bat um Verzeihung.
Irgendwann hatte Roy genug. Zeit, dass du erwachsen wirst, mein Sohn, sagte er. Sei ein Mann. Schluss mit Tränen und hysterischen Ausbrüchen. Bring dein Leben in Ordnung.
Roy starb am 1. April 1978.
Während des Jahres 1978 lebte Ron weiterhin in Tulsa, wo er sich eine Wohnung mit Stan Wilkins teilte, einem vier Jahre jüngeren Stahlarbeiter. Beide interessierten sich für Gitarren und Popmusik und verbrachten Stunden damit, auf ihren Instrumenten zu spielen und zu singen. Ron hatte eine ausdrucksstarke, wenn auch unausgebildete Stimme, und was er seiner Gitarre entlockte - einer teuren Fender -, verriet ein vielversprechendes Talent. Er konnte stundenlang dasitzen und spielen. In Tulsa gab es eine pulsierende Discoszene, und die beiden gingen oft aus. Nach der Arbeit kippten sie ein paar Drinks und besuchten dann die Szeneclubs, wo man Ron gut kannte. Er liebte Frauen und hatte keinerlei Hemmungen, sich an sie heranzumachen. Er ließ den Blick über die Menge schweifen, suchte sich das attraktivste Mädchen aus und fragte, ob sie mit ihm tanzen wolle. War sie einverstanden, nahm er sie in der Regel mit nach Hause. Sein Ziel war es, jede Nacht eine andere Frau zu haben. Obwohl er den Alkohol liebte, hielt er sich zurück, wenn er auf der Jagd war. Zu viele hochprozentige Drinks konnten seine Vorstellung im Bett beeinträchtigen. Bei gewissen anderen Substanzen war das nicht so. Kokain überschwemmte das Land und war in den Clubs von Tulsa mühelos zu bekommen. Über durch Geschlechtsverkehr übertragene Krankheiten machte man sich wenig Gedanken. Als größte Sorge galt Herpes; von Aids war noch nicht die Rede. Für Menschen mit solchen Neigungen waren die späten Siebziger eine wilde, hedonistische Zeit. Ron Williamson lebte ein zügelloses Leben.
Am 30. April 1978 wurde die Polizei in die Wohnung von Lyza Lentzch gerufen. Als sie eintraf, gab Lentzch an, von Ron Williamson vergewaltigt worden zu sein. Er wurde am 5. Mai festgenommen, hinterlegte zehntausend
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