Der Gefangene
Chickasha. Die beiden fanden ihn eines Sonntags nach dem Kirchgang in ihrem Hof. Er erklärte, er habe in einem Zelt hinter ihrem Zaun gehaust, und sein Aussehen ließ das als realistisch erscheinen. Dann sagte er, er sei gerade in Lawton einigen Soldaten entkommen, die Waffen und Sprengstoff gebunkert hätten, um den Militärstützpunkt zu stürmen. Glücklicherweise sei er ihnen rechtzeitig entwischt, und jetzt brauche er eine Bleibe.
Renee brachte ihn im Zimmer ihres Sohnes unter, und Gary besorgte ihm einen Job auf einer Farm, wo er Heuballen schleppen sollte. Nach zwei Tagen hatte er die Nase voll und behauptete, er habe ein Softballteam gefunden, das ihn brauche. Später rief der Farmer an und erzählte Gary, Ron solle sich bei ihm nicht mehr blicken lassen. Seiner Meinung nach habe er ernsthafte psychische Probleme.
Plötzlich erwachte Rons Interesse an amerikanischen Präsidenten aufs Neue, und er redete tagelang von nichts anderem. Er konnte ihre Namen in auf- und absteigender chronologischer Folge herunterrasseln und wusste alles über sie - Geburtsdaten und -orte, Amtszeiten, Vizepräsidenten, Ehefrauen und Kinder, besondere Errungenschaften und so weiter. Im Mittelpunkt jedes Gesprächs im Haus des Ehepaares Simmons musste ein amerikanischer Präsident stehen. In Rons Anwesenheit durfte über nichts anderes geredet werden.
Er wurde zur Nachteule. Obwohl er zu schlafen versuchte, konnte er kein Auge zutun. Außerdem mochte er die nächtlichen Fernsehsendungen, die er bei voll aufgedrehter Lautstärke verfolgte. Mit den ersten Sonnenstrahlen wurde er schläfrig und nickte ein. Renee und Gary, müde und mit geröteten Augen, genossen ein ruhiges Frühstück, bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machten.
Häufig klagte er über Kopfschmerzen. Einmal hörte Gary nachts Geräusche, und als er nachsah, entdeckte er Ron, der einen Badezimmerschrank nach Schmerztabletten durchwühlte.
Als die nervliche Belastung zu groß wurde, rührte Gary ein ernstes Gespräch mit Ron. Er versicherte ihm, er könne gern bleiben, müsse sich aber dem Tagesablauf der anderen anpassen. Ron schaute ihn verständnislos an. Stumm verließ er das Haus und kehrte zu seiner Mutter zurück, wo er entweder auf dem Wohnzimmersofa schlief oder sich in dem Abstellraum verschanzte. Er war achtundzwanzig Jahre alt und unfähig, seine Hilfsbedürftigkeit einzugestehen.
Annette und Renee machten sich Sorgen um ihren Bruder, konnten aber nicht viel tun. Er war halsstarrig wie eh und je und schien damit zufrieden, ein Leben als Herumtreiber zu führen. Sein Verhalten wurde immer seltsamer, und es konnte wenig Zweifel daran bestehen, dass seine psychischen Probleme schlimmer wurden. Aber dieses Thema war tabu; sie hatten bereits einmal den Fehler gemacht, es anzuschneiden. Juanita konnte ihn dazu bringen, einen Psychiater oder Suchtberater aufzusuchen, aber er brach jede Therapie vorzeitig ab. Auf jede kurze Phase der Nüchternheit folgten Wochen der Ungewissheit, in denen niemand wusste, wo er war oder was er anstellte.
Zum Vergnügen - falls ihm denn etwas Vergnügen bereitete - spielte er Gitarre, in der Regel auf der Veranda vor dem Haus seiner Mutter. Stundenlang konnte er dort sitzen und den Vögeln etwas vorsingen, und wenn es ihm zu langweilig wurde, machte er sich mit seiner Gitarre auf den Weg. Da er oft kein Auto oder kein Geld für Benzin hatte, streifte er zu Fuß durch Ada, wo man ihn an etlichen Ecken und zu unterschiedlichsten Zeiten sehen und hören konnte.
Rick Carson, ein Freund aus Rons Kindheit, war Polizist in Ada. Wenn er Nachtschicht hatte, sah er Ron häufig auf Bürgersteigen oder zwischen Häusern Gitarre spielen und singen, selbst lange nach Mitternacht. Rick fragte ihn, wo er hinwolle. Er habe kein spezielles Ziel, antwortete Ron. Rick bot ihm an, ihn nach Hause zu bringen. Manchmal nahm Ron das Angebot an, manchmal zog er es vor, seinen Weg fortzusetzen.
Am 4. Juli 1981 wurde er wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit verhaftet und bekannte sich schuldig. Juanita war wütend und bestand darauf, dass er sich wegen seiner Sucht behandeln ließ. Er wurde ins Central State Hospital in Norman überwiesen, wo sich ein Psychiater namens Dr. Sambajon um ihn kümmerte. Ron sagte nur, er wolle »Hilfe bekommen«. Sein Selbstbewusstsein und seine Willenskraft waren auf einem Tiefpunkt. Er hielt sich für wertlos, sah sich in einer hoffnungslosen Lage und dachte sogar an Selbstmord. »Ich kann mir selbst und den Menschen
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