Der gefrorene Rabbi
Wieder musste er gackern.
Sein Gastgeber hatte die Augen geschlossen wie gegen einen plötzlichen Wolkenbruch, und Schmerl rang abermals um Fassung. Er räusperte sich und unternahm einen neuerlichen Konversationsversuch, diesmal jedoch in möglichst neutralem Ton. »Vielleicht du kennst den falschen Messias Schabbtai Zvi?«
»Nicht persönlich.« Nacheinander schlug Max die Augen auf.
»Die Juden in den alten Zeiten, hobn sie geglaubt, mit ihm sie werden auffahren zu dem gan ejdn, bis er is abgefallen zum dem Kult von Ismael. War er berühmt für seinen Spruch: ›Sei gelobt Gott, woß er erlaubt doß Verbotene.‹«
Max wand sich auf seinem Stuhl und nahm noch einen Schluck. »Möchten wir sein Abtrünnige und Genussmenschen, aber wenigstens wir gehören nicht zu seinem Lager, oder, Karp?«
»Bewahre Gott.« Schmerl sprach die Worte ohne große Überzeugung und verstummte kleinlaut. Er war überrascht, als seinem Auge eine freudlose Träne entrann, und als er sie mit der Handfläche zur Zunge wischte, spannte er den Magen an, als wollte er mit dem Brustkasten sein Herz wie mit einer Schleuse verschließen. So hart war sein Urteil gegen sich selbst, dass er glaubte, auch den Tadel seines Freundes in sich aufgenommen zu haben. Denn Max’ Gesicht war weicher geworden, als er sein Gegenüber mit einem Mitgefühl betrachtete, das Schmerl nicht erwartete und nicht wollte. Der Erfinder war drauf und dran, den alrightnik zu fragen, warum er ihn so komisch anstarrte, doch Max sprach zuerst. Seine Stimme war eine Oktave höher als sonst und hatte jede Gereiztheit verloren. »Schmerl.« Zum ersten Mal redete er ihn mit dem Vornamen an. »Kannst du mich nicht lieben, weißt du.« Auf einmal war es ausgesprochen.
»Weiß ich«, entgegnete Schmerl rasch, obwohl es nicht stimmte; in diesem Moment wusste er nur, dass sie beide auf ein Terrain vorgedrungen waren, in dem alles möglich war. Das Universum war wieder gestaltlos und leer, es gab weder Gesetze noch Namen für die Dinge, und wenn es die Gerechten so wollten, konnten sie eine Welt erschaffen - so stand es im Talmud. Aber wer war hier gerecht?
»Weißt du es nicht«, widersprach sein Freund mit melodischer, wenngleich ein wenig schwerer Zunge.
»Weiß ich es nicht?« Schmerl versuchte sich zu erinnern, was genau er nicht wusste.
»Glaubst du, kannst du mich nicht lieben, weil ich bin ein Mann.«
Schmerl konnte nicht folgen.
»Aber bin ich kein Mann.«
»Kein Mann bist du?«
Max schüttelte den Kopf.
Vollkommen entgeistert schüttelte Schmerl den Kopf. »Woß bist du dann?«
Nach kurzer Überlegung antwortete sein Gastgeber: »A nafke.«
Schmerl glaubte sich verhört zu haben. »Woß du sogst?«
Max sprang auf und wiederholte hitzig: »Bin ich a hur!« Daraufhin zog er seine Weste aus, schüttelte die Hosenträger von den Schultern und riss sein kragenloses Hemd so heftig auf, dass sich der Erfinder in einem Schauer von Knöpfen ducken musste. Doch er hob rechtzeitig den Kopf, um zu beobachten, wie sich der jungerman das Unterhemd über den Kopf zog, woraufhin Schmerl sich fast die Hände vor die Augen gehalten hätte, denn er blickte auf zwei Brüste, so prächtig und voll, die Nippel wie Stiele von Marzipanbirnen, dass in seinem Innersten ein Schmerz erwachte, den er für lebensbedrohlich hielt. Ein Schmerz, an dem er gerne sterben wollte.
»Hoßt du verstanden noch immer nicht?« Sein Freund schien enttäuscht, dass die Enthüllung nicht die erwartete Wirkung hatte. Statt abgestoßen zu sein von einem durch unnatürliche Auswüchse entstellten Körper, schien der Erfinder nur starr vor Ehrfurcht. Wütend und mit Tränenbächen auf den Wangen riss Max den Schlitz seiner Hose auseinander und löste eine weitere Salve von Knöpfen aus, als er das Beinkleid zusammen mit einem Rüschenschlüpfer hinunter zu den Fußgelenken stieß. Dann standen die Alabasterbeine entblößt bis zu ihrer pelzumsäumten Mündung und der Wölbung, die sich darin verbarg wie eine geteilte Feige.
»Wenn dir nicht is zuwider, woß ich hob«, schleuderte sie ihm entgegen, »dann is dir vielleicht zuwider, woß ich hob nicht, gefallenes Weib, woß ich bin.«
Aber Schmerl war anderer Auffassung. Er erhob sich und zog das damastene Tischtuch mit, von dem klirrend die Blumenvase und die Teller stürzten, um es dem Mädchen um die nackten Schultern zu schlingen. Diese Geste bedingungsloser Zärtlichkeit rückte Jochebeds auf den Kopf gestellte Logik zurecht und raubte ihr die
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