Der gefrorene Rabbi
führte, warf der Erfinder immer wieder heimliche Blicke auf ihn, um herauszufinden, wie genau er sich verwandelt hatte. Zum einen waren seine zobelschwarzen Locken ein wenig länger und hingen ihm auf reizende und zugleich achtlose Art über Stirn und Ohren, und auch seine Züge wirkten etwas weicher an den Kanten, wie es sich für seinen neuen Wohlstand gehörte. Er war noch immer von schmächtiger Gestalt, hatte aber vielleicht ein, zwei Pfund zugenommen, doch ansonsten hatte sich sein Aussehen nicht dramatisch verändert. Warum hatte Schmerl trotzdem das beunruhigende Gefühl, dass diese Person nur eine leidliche Dublette seines Partners Max Feinschmeker war?
Er bemühte sich nach Kräften, seine Nervosität abzuschütteln und die Leichtigkeit wiederzubeleben, die er früher mit seinem Kameraden geteilt hatte. Mit anerkennendem Nicken sah er sich in der Wohnung um, äußerte sich lobend über die moderne Einrichtung: Dampfheizung, Innentoilette, kunstvolle Gasarmleuchter. Es war geräumig, aber nicht angeberisch (das sagte er wörtlich), mit vielen »tischlech un lompelech«, Tischchen und Lämpchen, und im Schlafzimmer ein eisernes Bettgestell mit einer baumwollgefüllten Matratze und flachen Federn. Dazu gab es weitere gemütliche Feinheiten: eine misrach-Tafel an der Ostwand, eine silberne menojre und ein Nähkästchen mit einem farbigen Spulenrad auf der Anrichte.
All dies wirkte umso hejmischer, da durch die Küchentür köstliche Aromen hereinwehten. Schmerl, der selbst kein Talent fürs Häusliche besaß, war beeindruckt, wie sehr sich Max in dieser Hinsicht entwickelt hatte. Obwohl er zufrieden war mit seiner Klause im Eishaus, deren fensterlose Wände zum Träumen anregten, stand er dem traulichen Nest seines Freundes nicht gleichgültig gegenüber und bewunderte den Komfort, der in warmem Gegensatz zu dem frischen Herbstabend stand. Einmal mehr rieb er sich die Augen darüber, wie weit sie es in so kurzer Zeit gebracht hatten; es war tatsächlich ein Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär, wie er in der Presse so oft beschworen wurde. Sollten seine Verwandten je auswandern - er hatte zu diesem Zweck bereits eine Korrespondenz mit seinem noch lebenden Papa begonnen -, wollte er dafür sorgen, dass sie ein ähnlich ausgestattetes Quartier erhielten. Schmerl selbst drängte es jedoch im Augenblick nicht nach einem Umzug, und auch seine verbesserte finanzielle Situation bewog ihn nicht zu einem Gefühl persönlichen Triumphs. Eigentlich wäre es ihm sogar lieber gewesen, wieder glücklich vereint mit Max im Wagenhof zu leben.
Sein Gastgeber bat ihn in den Salon mit einem eichenen Esstisch in einer Nische, der mit einem bestickten Tuch und handbemaltem Porzellan gedeckt und in der Mitte mit einem Strauß Ringelblumen geschmückt war. »War ich früher dein Gast.« Max verneigte sich förmlich. »Und jetzt du bist meiner.« In Schmerls Ohren klang das ein wenig wie eine Äußerung, die eine Spinne an eine Fliege richtete. Wieder erwartete er eine Köchin oder eine Dienstmagd, doch Max verschwand mit einer Entschuldigung in die Küche, um sogleich mit Schüsseln zurückzukehren, in denen eine cremige Suppe aus Pilzen und Gerste dampfte. Nach der Suppe gab es gebackenen Fisch mit Meerrettich, knejdlech und pikante Rinderbrust; ein regelrechtes Gastmahl des Belsazar, bemerkte Schmerl albern. Auch die anderen Konversationsbemühungen waren gezwungen, so zum Beispiel als Schmerl die Spannung mit einem Witz auflockern wollte: »Feinschmeker, wirst du sein jemand eine gute Frau.« Er hörte selbst, wie grob und unnatürlich Max’ Nachname auf seinen Lippen tönte. Obwohl ihm Essen nie besonders wichtig war, beschränkte sich Schmerl danach auf Äußerungen über die Schmackhaftigkeit des Fleischs und der gebratenen bulbeß. Als Dessert gab es selbst gemachten Zitronensorbet mit Makrone, gefolgt von bronfn, dem gewöhnlich bei kiddusch-Zeremonien servierten Rye-Whiskey. Schon der erste Schluck stieg dem Erfinder zu Kopf.
Am Ende war es Max, der die angespannte Atmosphäre auflöste. Er rieb sich die Hände und fragte seinen Gast, wie ihm der Sorbet geschmeckt hatte. Denn genau wie Schmerl vermutet hatte, wollte sein Partner übers Geschäft reden; zu einem guten Teil angeregt von Jochebeds Nostalgie, hatte er Ideen für eine Erweiterung des Unternehmens. »Woß hältst du davon, wenn wir nicht nur herstellen Eis, sondern verschiedene Sorten Eiscreme?« Die Eiscremewagen waren in den Gettostraßen bereits
Weitere Kostenlose Bücher