Der gefrorene Rabbi
Fähigkeit zur Scham. Dann schluchzten beide wie im Fieber, das Mädchen wegen der freudigen Wiedervereinigung mit der verlorenen Tochter von Salo Frostbissen, und der Jüngling wegen einer Verwandlung, die er, der Zauberer, ganz allein mit der Kraft seiner Sehnsucht herbeigeführt hatte: die Metamorphose seines geliebten Gefährten in die Frau seiner Träume.
2001
I n dieser Nacht sah Bernie Karp aus seinem günstigen Winkel irgendwo in den empyreischen Gefilden, wie sich sein durchfallgeplagter Körper nach der Begegnung mit dem rebbe auf einer pastellfarbenen Toilette krümmte. Irgendetwas an diesem Treffen war ihm anscheinend nicht bekommen. Frei schwebend empfand der Junge, was er schon so oft empfunden hatte: ein tiefes, auf sein geplagtes Selbst gerichtetes Mitleid, das sich über seinen speziellen Fall hinaus zu einer allgemeinen Sorge um die Elenden der Welt ausdehnte. Dieses Mitleid zwang ihn im Geist der Solidarität mit der Gattung, wieder in den von Krämpfen geschüttelten Jungen zurückzukehren, dem die Schlafanzughosen um die Knöchel hingen. Auf diese Weise würde er seinen Anteil an den Schmerzen auf sich nehmen, die unausweichlich zur menschlichen Erfahrung gehörten. Vorher hatte allerdings der Leidensdruck zu dem Wunsch geführt, der Conditio humana ganz zu entrinnen, und damit das Tauziehen zwischen Bernie und dem Kosmos fortgesetzt. Wenn er in seine Haut zurückkehrte, würde er sogleich den Impuls spüren, seine Körperlichkeit abzustreifen und wieder in die schefa einzutauchen, den Strom göttlicher Emanationen, der sein Bewusstsein verrückte und ihm so die Möglichkeit gab, frei durch Raum und Zeit zu schweifen; doch im Exil würden ihn wieder die Einsamkeit und die Sehnsucht nach der sterblichen Hülle einholen, die er zurückgelassen hatte. Aber in dieser Nacht, während seine Eltern nur durch eine Wand von ihm getrennt schliefen und von Dingen träumten, die sie seit der Begegnung mit Rabbi ben Zephir beschäftigten, entdeckte Bernie, dass er, einmal abgesehen von den Unterleibsspasmen, an diesem irdischen Selbst und damit auch an der Welt hing.
Da erst glaubte Bernie zu begreifen, worum es dem auferstandenen rebbe ging: Er praktizierte die Diszplin der alija ztrichah jeridah, den Abstieg um des Aufstiegs willen, eine extreme Korrekturmaßnahme, von der der Junge zum ersten Mal in den Schriften des Rabbis Jacob Joseph von Polonne gelesen hatte. Der Polnojer sejde, wie er zärtlich genannt wurde, hatte im achtzehnten Jahrhundert gelebt. Er war aus den erhabenen Gefilden der Heiligkeit herabgestiegen, um die gefallenen Seelen seiner elenden Gemeinde zur Quelle des Lichts zu führen. »Manchmal muss zum Heil des Frevlers der Meister aus seiner Höhe herabstürzen.« Vertraut mit dem abscheulichen Konzept der Erlösung durch Sünde, wie es die Anhänger der sabbatianischen Ketzerei vertraten, wusste Bernie um die Gefährlichkeit dieses Unterfangens. Er kannte die mahnenden Worte von Jacob Joseph: »Der Abstieg ist gewiss, nicht jedoch der Aufstieg.« Und weiter: »Der zadik muss besonders darauf achten, dass er wieder aufsteigt und nicht, Gott bewahre, in den Niederungen verharrt. Denn ich hörte von meinem Lehrer, es gab viele, die zurückblieben.« Anderseits galt jedoch: »Nur wer selbst Schuld auf sich lädt, kann die Schuld der anderen auf sich nehmen.« Es war Zeit, dachte Bernie, sich wirklich zu beflecken.
Dem nebelhaften Wunsch nach Verschmelzung mit seiner eigenen Gattung nachgebend, verengte er seinen Fokus bald auf einen einzigen Gegenstand: die verschrobene Lou Ella Tuohy. Ihr milchweißer Körper, so schien es ihm auf einmal, war eine Voraussetzung für seine eigene, wenn nicht gar die Erlösung der gesamten Menschheit. Und umgekehrt würde dabei auch die zurückgelassene Magd, die seine einsamen Flüge in die Herrlichkeit so oft mit ihrem Segen begleitet hatte (so schmeichelte sich Bernie), mitgerissen werden.
Daher war Bernie am nächsten Abend, nachdem sie den Malibu ihrer Mutter in einem längst verlassenen Autokino abgestellt hatten, fest entschlossen, dass ihre Küsse diesmal mehr sein sollten als der mechanische Auftakt zu seiner Transzendenz. Es war nicht ihr erster Besuch dieser versteinerten Ruine am Südrand der Stadt, einem Ort, an dem die Zeit in den Fünfzigerjahren stehen geblieben war. Eulen saßen nun auf den einst mit Metalllautsprechern besetzten Pfosten, und über den welligen Asphalt breitete sich der Stinkkohl aus wie die Sargassosee. An sternenklaren
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