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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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eine allgegenwärtige Erscheinung, und ihr Angebot erfreute sich großer Beliebtheit. »Sollten wir nicht aufspringen auf den Zug?« Dann begann er einen aufgeregten Vortrag über die Formen, Behälter und sonstigen für die Herstellung von Eiscreme benötigten Gerätschaften sowie die verfügbaren Geschmacksrichtungen, von Vanille über Pistazie bis zu Bergamotte. Schmerl ließ sich gefangen nehmen von der Idee und stellte sich riesige mechanische Rührtrommeln mit Bergen von gefrorenem Pudding vor, die, kaum hatten sie in seiner Fantasie Formen angenommen, gleich wieder schmolzen, so sehr hatte der Alkohol ihn benebelt. Er war verblüfft, wie weit der Ehrgeiz seines Freundes reichte, und musste sich daran erinnern, dass ihn alles glücklich machte, was Max glücklich machte.
    Doch selbst seine etwas verhaltene Reaktion genügte, um Max zu ermutigen, der schon wieder das Thema gewechselt hatte. Er hatte vor Kurzem Abhandlungen des Sozialisten Morris Hillquit aus der East Side gelesen, der für den geschäftlichen Erfolg fortschrittliche Strategien vorschlug: Die Versöhnung von Kapital und Arbeit, so seine These, konnte durch Gewinnbeteiligungsbündnisse realisiert werden, die die bestehenden Verhältnisse revolutionieren würden. Wie dachte Schmerl darüber? Doch Max ließ ihm gar keine Zeit zu einer Antwort.
    Schmerl hatte keinen Sinn für die verschiedenen Ismen, die den Bewohnern der East Side so sehr am Herzen lagen. Niedergeschlagen ließ er Max’ Worte an sich vorbeirauschen und begnügte sich damit, seinen angeregt plaudernden Freund zu beobachten, den geschätzten Gefährten, den er, mochte Gott ihm beistehen, unbedingt küssen wollte. Da merkte der Erfinder mit brennenden Wangen, dass er schon ziemlich schiker war. Um sich abzulenken, nahm er einen Apfel aus einer Schüssel auf dem Tisch und schälte ihn mit einem Messer mit Elfenbeingriff. Die Schale hing wie ein Ringelschwänzchen an dem Apfel, die Flugbahn eines aus der Umlaufbahn geworfenen Planeten. Während er ihn anstarrte, bis er schielte, wurde Schmerl bewusst, dass auch Max den Apfel fixierte und dass sein galoppierender Monolog fast zum Stillstand gekommen war. Gepackt von trunkenem Mut, unterbrach Schmerl seinen Gastgeber mit gespielter Unbekümmertheit: »Und, Feinschmeker, meinst du, wirst du bald heiraten?« Nachdem er den Apfel mit seinem spiralförmigen Schwanz abgesetzt hatte, gönnte er sich noch einen Schluck von dem rituellen Whiskey, weil seine Kehle plötzlich ganz ausgetrocknet war.
    Max, der immer noch auf den Apfel konzentriert war, fuhr aus seiner Versunkenheit. »Gefällt mir meine Freiheit.«
    Schmerl brachte seine Zustimmung mit einem heftigen Nicken zum Ausdruck; das sah er ganz genauso. Doch in der anschließenden Stille ließ sich der vom Alkohol betörte Erfinder zu einer weiteren Frage hinreißen. »Warst du verliebt schon mal?«
    Der jungerman wirkte verlegen. »Und du?«
    »Hob ich zuerst gefragt.«
    Max’ schlehdorndunkle Augen verengten sich zu reptilienartigen Schlitzen, und er rief empört: »Woß für eine Frage ist doß!«
    Schmerl verstand die Zornesaufwallung seines Freundes als negative Antwort und sagte: »Auch ich nie.« Dabei schüttelte er so heftig den Kopf, dass sein Gehirn pochte, seine Ohren glühten und seine ganze Anatomie gegen die Lüge protestierte. »Heißt doß …« Er stockte. »Meine ich …« Aber was meinte er? Dass er Max Feinschmeker liebte - einen Mann? Natürlich liebte er ihn, aber auf eine Weise, die nichts mit der Liebe zu tun hatte, von der sie hier redeten. Diese Liebe war unmöglich in der Welt, wie er sie begriff, ja sogar ein abscheuliches Laster. Aber warum? Er erkannte, dass ihm nur der Genuss geistiger Getränke gestattete, solch eine Frage überhaupt zu denken … Trotzdem nahm er noch einen Schluck. Wie um nicht ausgestochen zu werden, folgte Max seinem Beispiel. Dann spürte Schmerl die Worte aus seinen Eingeweiden hochsteigen wie einen Vulkanausbruch, den er nicht aufhalten konnte. »Ich …«
    In diesem Moment unterbrach ihn Max mit einem Niesanfall.
    »Gesuntlichkejt.« Schmerl war dankbar für den Aufschub. Da bemerkte er seinen Fehler - er hatte den Segen mit dem Wort für ein geselliges Beisammensein vermischt - und begann hilflos zu kichern. Doch als er sah, dass Max ernst blieb, unterdrückte er sein Lachen. Dann nahm er einen neuen Anlauf - wozu eigentlich? »Heißt es, is es nicht so wichtig zwischen Mann und Frau der Unterschied, wie es is die Vermehrung.«

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