Der gefrorene Rabbi
ihrer unablässigen Plackerei zu unterstützen, waren sie sich auf einmal nicht zu schade, als Hilfsarbeiter Seidenfäden zu drehen und synthetische Farbe in Fässern umzurühren, um die Fabrikarbeiter in Gewerkschaften zu organisieren. Diese und ähnliche Aktivitäten der Genossen lösten Streiks und Aussperrungen aus, die zu Kämpfen zwischen Arbeitern und gedungenen Schlägern, zu Abreibungen durch die Polizei und Massenverhaftungen führten, denen sich die Zwillinge nur mit knapper Not entziehen konnten. Und obwohl sie nur eine flüchtige Bekanntschaft mit ihrer Muttersprache hatten, bezeichneten sie das Jiddische in jüngster Zeit bloß noch verächtlich als shargon und bekannten sich zur Wiederbelebung des Hebräischen als der offiziellen Lingua franca der Juden.
Salo war so von Arbeit und Träumen gefangen, dass ihm die politische Betätigung seiner Söhne verborgen blieb. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er sie zu Gesicht bekam, konnte er sich nur darüber wundern, wie groß sie geworden waren; er bewunderte sie dafür, dass sie zu einer völlig neuen Art von Juden geworden waren, die nicht mehr blutarm und leidend war, sondern muskulös und zielstrebig, wohingegen sich Bascha Pua murrend fragte, ob sie bei all ihrem nichtjüdischen Gehabe überhaupt noch beschnitten waren. Auch ihr waren die Nachrichten zu Ohren gekommen, die auf dem Markt die Runde machten: In Russland war eine Revolution gescheitert, und viele Bewohner von Lodz, die mit den Aufständischen sympathisierten, hatten Barrikaden errichtet und waren bei Zusammenstößen mit der Polizei verletzt worden; danach waren Dutzende polnische und jüdische Jugendliche von den Straßen geholt und ohne Gerichtsverhandlung ins Gefängnis geworfen worden. Dann tauchten plötzlich aus der Kälte die Zwillinge im Keller auf; argwöhnisch über die Schulter blickend, stopften sie Kleider in Rucksäcke und teilten ihrer Mutter und der kleinen Schwester mit, dass sie nach Palästina reisten, um dort einen Judenstaat zu gründen. Sie sprachen über Zion wie über ihre eigentliche Heimat, und das war er für sie im Grunde auch. Natürlich hatten sie kein Verständnis für das Opium der Religion, und ihr Aufbruch hatte nicht mit einem »heiligen« Land zu tun; in dieser ungerechten Welt, so behaupteten sie, gab es nichts Heiliges außer dem menschlichen Willen. Erfüllt vom Eifer ihrer neuen Ideologie, vergaßen sie zu erwähnen, dass sie von den Behörden gesucht wurden.
Bascha Pua marschierte zum Eishaus, um ihren Mann zu holen. Als sie ihn endlich von seinem Posten losgeeist hatte (eine zunehmend schwere Aufgabe, da seine Gelenke eingerostet waren), forderte sie ihn auf, etwas gegen die Abreise der Jungen zu unternehmen. Aber Salo war ratlos. Er hatte kaum wahrgenommen, wie die Jahre vorüberzogen, und in seinen Augen waren die Zwillinge noch immer spitzbübische kleine pischerß, die nichts Schlimmes anstellen konnten. Was ihre neu geformten Ideale anging, so maßte sich ihr Vater nie an, ihnen davon abzuraten. Allerdings wunderte er sich, dass es jemanden anderswohin zog, wo doch der Mittelpunkt des Lebens so unzweifelhaft in Lodz lag.
So appellierte er an ihre Vernunft. »Jachne, Jojne, meine ich Jojne, Jachne. Wozu das Ganze? Seid ihr geboren im Balut, woß sich, wie ihr wisst, reimt auf galut - die Diaspora. Woß hobn Juden zu suchen in Jerusalem?«
Doch als sich zeigte, dass sie sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen ließen, packte Salo zur tiefen Verärgerung seiner Frau die Leidenschaft. Auf einmal betrachtete er seine kräftigen Söhne als romantische Gestalten und war ganz aufgeregt über die gewaltige Reise, die ihnen bevorstand. Doch vor ihrem Aufbruch sollten sie noch ins Eishaus kommen, denn er musste ihnen etwas zeigen. Um ihn sich vom Hals zu schaffen, versprachen die Zwillinge, auf dem Weg ins Gelobte Land noch schnell bei Pisgats Lager vorbeizuschauen. Doch es mussten Vorbereitungen getroffen, Menschenschmuggler angesprochen, alte Spielschulden eingetrieben werden, um Geld für Bestechungen zu sammeln - all dies, während Salo in seinem einsamen Winkel des Kühlraums vergeblich neben dem alten Zedernsarg wartete. Statt von seinen Söhnen in ihren Röcken mit breiten Gürteln und Schirmmützen wurde der Nachtwächter schließlich von Polizisten mit schwarzen, lampenzylinderähnlichen Helmen besucht, die ihm erfolglos mit Fragen und Drohungen zusetzten.
Nach einer Weile schickten die Zwillinge Briefe aus Palästina, in denen sie von
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