Der gefrorene Rabbi
Beziehung sogar für ganz normal halten. Voller Staunen registrierte Lou, dass sie sich einen normalen Freund wünschte, und es wäre ihr lieber gewesen (wie auch Bernie manchmal), wenn der Alte sich nie aus dem Eis befreit hätte.
»Cool, Übermensch, rette den Rabbi«, sagte sie. »Von mir aus kannst du die ganze verdammte Welt retten, aber erst liest du mir die Geschichte bis zum Ende vor.«
1929
N achdem seine Kopfwunde vernäht und verbunden und die verbrannten Hände in Mull eingewickelt waren, wurde Ruby von allen für seine guten Absichten gelobt. Er hatte wirklich heldenhaft gehandelt; eine Tatsache, die selbst seine erschütterte Mutter zur Kenntnis nahm, obwohl es ihm nicht gelungen war, seinen Vater zu retten. Sein Schweigen und seine Verschlossenheit beim Begräbnis - eine überflüssige Angelegenheit, da der Erfinder bereits zusammen mit seiner Fabrik eingeäschert worden war - wurden als tiefe Trauer gedeutet.
Für einen Mann ohne enge Freunde war es eine erstaunlich große Totenfeier. Die Beerdigung fand im Friedhof Mount Zion in Queens statt, einer ausladenden Nekropole auf einem Hügel mit Ausblick auf die Skyline von Manhattan, die sich in der Ferne erhob wie die Dornen am Schwanz eines Drachen. Die gesamte heimatlos gewordene Belegschaft von Karp’s Ice Castle erschien, um ihrem Chef die letzte Ehre zu erweisen, und zog nach der Grabrede des Rabbis an dem unlackierten Kiefernsarg vorbei. Jeder warf eine Handvoll Erde in die Grube, die hohl dröhnend auf dem versiegelten Sarg mit den einzigen identifizierbaren Überresten des Fabrikbesitzers landete: ein verkohlter, violinschlüsselartiger Wirbel, ein spröder Schädelsplitter. Die hinterbliebene Mrs. Karp, deren natürliche Blässe einer fast durchscheinenden Fahlheit gewichen war, stützte sich auf den Arm ihrer Schwägerin Schinde Esther, deren Eltern im vergangenen Jahr verstorben und im Nachbargrab bestattet worden waren. Neben der Witwe und Esther standen Jochebeds Zwillingsbrüder, die rechtzeitig aus Palästina eingetroffen waren, um die Einäscherung der Existenz ihrer Schwester zu erleben. Ruben Karp, dessen leerer Gesichtsausdruck nicht zu seinem flotten Kopfschmuck und Anzug passen wollte, stand abseits von den anderen im Schatten eines fremden Grabsteins.
Jochebeds Brüder waren nach Amerika gekommen, um Geld für die Siedlungsbewegung in Palästina zu sammeln, die sich als Avantgarde für die Gründung eines jüdischen Nationalstaats begriff. Als erfahrene Veteranen der Kolonisierung von erez Israel waren Jachne und Jojne, die seither zu Jecheskel und Jigdal geworden waren, ausgewählt worden, um den Zionisten Zerubbabel ben Blish auf seiner Reise durch die östlichen US-Staaten zu begleiten. Dabei fungierten die Zwillinge, die nicht nur Pioniere, sondern auch Soldaten waren, zum einen als Leibwächter, zum anderen sollten sie aber auch mithilfe ihrer Körperkraft ein wenig Druck ausüben, um die Spendenbereitschaft für den jischuw zu erhöhen. Zufälligerweise war der erste Vortragstermin auf Genosse ben Blishs Kalender in der Baron de Hirsch Synagogue in der Upper West Side von New York angesetzt. Auch die an diesem Sabbatabend von ihrem nachtaktiven Gatten im Stich gelassene Mrs. Schmerl Karp nahm an der Veranstaltung teil. Nach dem Gottesdienst und einer kurzen Einführung des Rabbis trat Genosse ben Blish - ein junger Mann mit Brille und den Manieren eines alten Staatsmanns - auf die Bühne. Zu beiden Seiten von ihm postierten sich wie ein Paar Mamelucken mit verschränkten Armen und vierschrötigen Köpfen die imposanten Gebrüder Frostbissen.
Während Genosse ben Blish seinen üblichen Vortrag über die Wunder in der Wüste begann und Früchte aufzählte, die dort seit dem Zeitalter der Propheten nicht mehr gewachsen waren, ließen Jigdal und Jecheskel den Blick über die Gemeinde schweifen. Einer alten Gewohnheit folgend, blieben sie auch in freundlicher Umgebung auf Unannehmlichkeiten gefasst; den Feinden Zions war kein Ort heilig. Sie musterten die Gesichter der wohlhabenden Männer in ihren samtenen Scheitelkappen und ihrer herausgeputzten Frauen auf der Galerie. Besonders eine rührte mit ihrer verstörenden Schönheit eine Saite in ihnen an. Kurz wandten sie sich einander zu, während die Saite in ihrer breiten Brust immer lauter schwang; dann wandten sie sich wieder der attraktiven Frau zu, obgleich es sich nicht gehörte, das schwächere Geschlecht längere Zeit anzustarren. Auch Jochebed spürte an ihrem Platz
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