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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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eine seltsame Anziehung, bis das erste leise Zittern zu einem Beben wurde, das eine Spalte zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufriss. Als der Redner zum Ende kam, schaute er feierlich nach links und rechts, um seinen Assistenten zu signalisieren, dass sie vom Podium treten und die puschkeß aus blauem Metall herumgehen lassen sollten. Aber die Zwillinge waren bereits verschwunden und schnurstracks vor die Treppe zur Frauengalerie geeilt, wo sich die Damen über den plötzlichen Aufbruch der betörenden Mrs. Karp echauffierten. Kurz darauf war aus dem Treppenhaus jenseits des hochkuppeligen Altarbereichs schallendes Lachen zu hören, das eine freudige Wiedervereinigung untermalte.
    Sie lud die Brüder in ihre Wohnung ein und entschuldigte sich für die Abwesenheit ihrer Verwandten: Ruben war nur selten zu Hause, und ihr Mann Schmerl arbeitete häufig bis spät in die Nacht in der Fabrik an seinen Projekten. Sie versuchte, ihn anzurufen, erhielt jedoch wie gewöhnlich keine Antwort, da es schon nach Feierabend war und der Erfinder den Wachmann nach Hause schickte, wenn er im Eishaus übernachten wollte. Sie servierte Tee und selbst gemachte schnekn, dazu zuckrigen Muskateller, da den Juden trotz der Prohibition zu rituellen Zwecken ein gewisses Quantum Wein zugestanden wurde. Sie wollte ihre emsige Betriebsamkeit nicht einstellen, bis die Brüder sie auf einen Lehnstuhl setzten und sie mahnten, doch nicht so nervös zu sein. Schließlich war es erst zweiundzwanzig Jahre her, dass sie voneinander Abschied genommen hatten. »Schaut ihr euch an«, rief Jochebed, als sie sich so weit gefasst hatte, dass sie das ungeschlachte Äußere der beiden wahrnahm, »wie Pfadfinder, woß sind verwildert.« Die Zwillinge grinsten mit feuchten Augen, wie um einzuräumen, dass die Rubaschkahemden und die Halstücher, die kurzen Kakihosen und knöchelhohen Chukka tatsächlich der Uniform einer Kinderbrigade ähnelten. Jecheskel und Jigdal, die zu unterscheiden Jochebed erst gar nicht versuchte, versicherten ihr umgekehrt, dass das hübsche Vögelchen, an das sie sich erinnerten, zu einer erlesen schönen Ehefrau gereift war. Sie zupfte an ihren schwarzen Locken und errötete vor Stolz auf ihre abwesenden Männer, obwohl der eine ein liederliches Leben führte und der andere der Sklave seiner versponnenen Fantasie war. Nach der Wiedervereinigung mit ihren Brüdern hatte Jochebed das Gefühl, dass sich ihr Leben in einem Triumphbogen vom schlammigen Getto in Lodz zur Upper West Side in New York erstreckte.
    So wie man von beiden Ufern aus Trittsteine durch einen Bach legen würde, erzählten sie einander von den Ereignissen, die sie verpasst hatten. Jede Mitteilung - Jochebeds stille Teilhaberschaft am Geschäft ihres Mannes, Jecheskels und Jigdals Arbeit auf einer Kolchose in Galiläa - stellte einen weiteren Stein dar, der ihre jeweiligen Vergangenheiten einander näher brachte. Allerdings wählten sie nur die stabilsten und rutschfestesten Steine aus und ließen die unförmigen und die, an denen man sich verletzen konnte, liegen, denn beide Seiten hatten Erinnerungen, die ihrer Nähe vielleicht geschadet hätten. So verbrachten die gewöhnlich schweigsamen Brüder und ihre Schwester, die immer wieder neugierige Fragen stellte, mehrere bezaubernde Stunden miteinander; sie aßen die Brötchen, tranken den süßlichen Wein und fanden, dass alle Beteiligten mit ihrem Schicksal zufrieden sein konnten. Die Zwillinge waren unverheiratet geblieben, und obwohl die Männer und Frauen in den Kommunen es nicht für nötig hielten, ihre Gemeinschaften offiziell absegnen zu lassen, hatten sie weder Frau noch Kinder, da sie sich mit dem Eifer der alten Essäer der Schaffung eines jüdischen Staates verschrieben hatten. Jochebed lauschte ihren Erzählungen mit leicht übertriebener Ehrfurcht, da ihr die Abnormitäten menschlichen Verhaltens nach ihrer Zeit als Mann unter Männern nicht mehr fremd waren.
    Als ihre Schwester in den frühen Morgenstunden die Hoffnung aufgab, dass ihr Gatte in dieser Nacht noch zurückkehren würde, erklärten Jigdal und Jecheskel, belebt von dem frohen Zusammensein, ihre Absicht, ihn zu holen. Jochebed prostestierte: Um diese Zeit fuhren weder Untergrundbahn noch Busse, und auch Taxis waren kaum unterwegs; sie sollten lieber ein wenig schlafen und bis zum Morgen warten. Aber die Brüder waren viel zu aufgewühlt und meinten, dass sie zu Fuß gehen konnten, wenn sie kein Transportmittel fanden; sie brauchten sowieso

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