Der gefrorene Rabbi
dringend frische Luft, und außerdem hatten sie im Heiligen Land gelernt, ohne Schlaf auszukommen.
Das Feuer und die begleitende Explosion, über die später mehrere Theorien kursierten, konnte nur mit drei Mannschaften und einem Freiwilligenkorps gelöscht werden. Da das Ice Castle den gesamten Block einnahm, war die Zerstörung weitgehend auf das Firmengelände begrenzt; die benachbarten Gebäude nahmen nur leichten Schaden, und obwohl mehrere Feuerwehrleute von den giftigen Dämpfen bewusstlos wurden, war nur ein Menschenleben zu beklagen. Aber die Aschengrube, die von der Fabrik einzig übrig geblieben war, schwelte noch tagelang vor sich hin, als wäre mitten im Getto eine Vulkanlandschaft mit Fumarolen entstanden. Nach dem schrecklichen Ereignis brachten es die Zwillinge nicht über sich, ihre wiedergefundene (und zu Tode betrübte) Schwester zu verlassen. Ihr Sohn, den sie bei dem waghalsigen Versuch angetroffen hatten, seinen Vater vor der Katastrophe zu bewahren, stand offenkundig noch immer unter Schock und konnte sich daher nicht um seine Mutter kümmern.
Als sie ihrem Landsmann und Schützling Zerubbabel ben Blish von dem Unglück berichteten, zeigte er Verständnis. Er spielte die daraus entstehende Unannehmlichkeit herunter und versicherte den Zwillingen, dass er auch allein zurechtkam. Allerdings verschob er fürs Erste die Fortsetzung seiner Reise und nahm Einladungen zu Vorträgen an jüdischen Veranstaltungsorten der Stadt an.
Den Brüdern schien es, dass sie ihre wunderschöne Schwester nur wiedergefunden hatten, um zu erleben, wie sie vor ihren Augen zu einem schwarzen Bombasingespenst verblasste. Eben hatten sie sie noch in ihrem vollen Glanz erlebt, und nun war er auf grausame Weise ausgelöscht worden. Über Nacht hatte sich ihre angeborene Beherrschung in bittere Passivität verwandelt, und ihr schwarzes Haar hing in metallgrauen Büscheln herab. Wenn sie etwas sagte, dann lediglich, um sich anzuklagen: »Is es meine Schuld, weil ich war so verdorben.« Zugleich legte sie in dem Stuhl, den sie während der einwöchigen schiwe kein einziges Mal verließ, ein unreinliches, seltsam geschlechtsloses Verhalten an den Tag. Nur beim Thema Geld zeigte sie noch einen Rest ihrer früheren Lebendigkeit. Als man ihr großzügigen Schadenersatz für die Fabrik versprach, deren Zerstörung die Versicherungsgesellschaft auf Drängen der Zwillinge als höhere Gewalt einstufte, erklärte sie kategorisch, dass sie das Geld nicht wollte. Und obwohl ihre Brüder respektvoll einwandten, dass sie nicht unvernünftig sein sollte, blieb sie dabei, keinen Nutzen aus dem Tod ihres Mannes zu akzeptieren. Überflüssig zu erwähnen, dass sie nicht an einen Wiederaufbau des Geschäfts dachte; ihre Kraft reichte kaum zum Essen und Anziehen, und wäre die unverheiratete Schinde Esther nicht gewesen, die sie geduldig dazu bewog, etwas zu sich zu nehmen, wäre sie ihrem Schmerl vielleicht in ein frühes Grab gefolgt.
Wie es der Zufall wollte, hatte sich der vorzeitige Tod des Erfinders genau am Vorabend einer Reise ereignet, die Esther schon seit einiger Zeit plante. Nach dem Verlust ihrer Eltern vor über einem Jahr (der eine durch unheilbares Mal de Mer, die andere zu Tode erschreckt vom Geist ihres Gatten) hatte sie sich vorgenommen, die Einladung eines Bruders anzunehmen - des einzigen außer Schmerl, mit dem sie noch in Verbindung stand. Alle anderen waren vom riesigen amerikanischen Binnenland verschluckt worden. Nur Melchior, inzwischen Marvin, der im exotischen Tennessee wohnte, hatte ihr weiterhin geschrieben. Die Fahrt war schon mehrmals abgesagt worden, weil Esther kalte Füße bekam. Erst als ihr der familienbewusste Marvin einen richtigen Umzug vorschlug und ihr eine Anstellung in seinem Gemischtwarenladen anbot - und etwas unlogisch hinzufügte, dass sie in einem wärmeren Klima vielleicht bessere Heiratsaussichten hatte -, entschloss sich die vollbusige kleine Frau zu dem Schritt. Sie war viel zu lange die Betreuerin ihrer Eltern und abhängig von ihrem verrückten Bruder gewesen und sehnte sich jetzt nach Eigenständigkeit. Doch dann kam das Feuer, und wieder musste die Reise verschoben werden, damit sie sich um die Schwägerin kümmern konnte, die ihr ans Herz gewachsen war.
Irgendwann in den tristen Tagen nach der Trauerwoche hatte Esther eine radikale Idee: Konnte sie die Witwe nicht einfach mitnehmen? Was hatte Jochebed denn in New York anderes zu erwarten, als tatenlos in einer Wohnung voller
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