Der gefrorene Rabbi
Leute anwesend waren, um das kaddisch zu sprechen. Ab und zu trieb ihn eine undeutliche Regung dazu, sich neben den Stuhl seiner Mutter zu stellen, die sich trotz ihrer sonstigen Zerstreutheit dazu herbeiließ, seine Anwesenheit mit einer Berührung zur Kenntnis zu nehmen. Diese ließ er mit einem stoischen Beben über sich ergehen, leicht bestürzt über die Verachtung, die er für die Frau empfand, deren Leben er zerstört hatte. Gelegentlich packte ihn die Lust, mit dem Geständnis seines Verbrechens Salz in die Wunde zu streuen. Trotz der erzwungenen Bewertung durch die Versicherungsgesellschaft war es alles andere als ein Geheimnis, dass das Feuer nicht auf natürliche Weise entstanden war. Die Polizisten waren so vertraut mit den ortsüblichen Methoden der Brandstiftung, dass sie die Schuldigen zweifellos sofort hätten benennen können. Aber Naf der Scherzer hatte seine Beiträge an die Behörden immer pünktlich bezahlt, sodass seine Gang nicht mit Nachforschungen behelligt wurde. Ruby bedauerte das sogar, denn eine lebenslange Zuchthausstrafe hätte seiner Stimmung entsprochen.
Niedergeschmettert, wie sie war, hätte sich seine Mutter von seinem Geständnis bestimmt nicht mehr erholt. Aber war das nicht das Wesen von Wiedergutmachung? Von den Jom-Kippur-Festen früher wusste er noch, dass man Schuld durch Sühne abtrug, doch zugleich war ihm klar, dass er seine Tat nie würde sühnen können. Trotzdem: Er war ein Mann der Tat, und es musste doch etwas geben, was er tun konnte. Er kam auf die Idee, dass es naheliegend war, sich selbst zu vernichten, nachdem er seinen Vater vernichtet hatte. Und plötzlich fiel ihm auf, dass hier sein Gewissen sprach. Hatte er auf einmal ein Gewissen entwickelt? Aber die darin verfochtene Logik war ihm so unverständlich wie ein zufällig belauschter Gesprächsfetzen, und wenn er noch angestrengter zuhörte, würde sich sein Gehirn verkrampfen, als hätte man es zusammengedrückt, um alle Gifte herauszupressen. Vermutlich war das Reue. Es war das einzige verbliebene Gefühl in seinem erschöpften Arsenal, während es andererseits gar nicht zu ihm zu gehören schien. So verharrte er völlig gelähmt angesichts der Umstände … bis die Brüder seiner Mutter heranstapften, um ihm einen Vorschlag zu machen.
Vom Küchentisch aus schaute er sie finster an. Was wollte dieser lästige Doppelpack eigentlich? Klar, sie hatten ihm das Leben gerettet (schönen Dank auch), das gab ihnen wahrscheinlich das Recht zu einer Unterhaltung. Da die Brüder praktisch kein Englisch konnten und nach zwei Jahrzehnten Hebräisch auch ihr mame-loschn verkümmert war, war eine Verständigung mit Ruby nicht so einfach, der selbst kaum Jiddisch sprach, ganz abgesehen davon, dass er wenig geneigt schien, überhaupt den Mund aufzumachen. Also engagierten sie seine Tante Esther als Vermittlerin, die sich, nachdem sie festgestellt hatte, dass er nicht biss, in den letzten Wochen um den Sohn fast genauso rührend gekümmert hatte wie um die Mutter. Stoisch hatte Ruby zugelassen, dass sie seine Verbände um Kopf und Hände wechselte und Salben auftrug, mit deren Hilfe seine Wunden inzwischen fast verheilt waren. Doch nun wirkte sie ein wenig aufgeblasen in ihrer Rolle als Sprachrohr, und Ruby nahm mit leichtem Amüsement zur Kenntnis, wie sie angestrengt das Bratapfelgesicht verzog, als sie das hebraisierte Jiddisch der Zwillinge ins Amerikanische übersetzte.
»Wie du weißt, darf nicht wern aufgegeben unser Familienschatz.« Fragend wandte sie sich an die Zwillinge: »Woß is der dajtsch far ›Familienschatz‹?« Die zwei Hünen baten sie, einfach ihre Worte zu wiederholen. Leicht verärgert, weil sie nicht eingeweiht wurde, zupfte sie an ihrem Korsett. »Bieten wir dir an doß außergeordnete Recht, dass du ihn begleitest, den Vermächtnis … woß für ein Vermächtnis?«
Da benutzte Ruby, der bereits genug gehört hatte, einen der wenigen ihm bekannten jiddischen Ausdrücke: »A klog ze ajch alemens - ihr könnt mich alle.« Doch mit einem Esperanto überzeugender Gesten gaben ihm die Brüder zu verstehen, dass ein Nein nicht infrage kam.
Nach ihrem Plan sollte Ruby auf der Reise nach Tennessee auf den Sarg aufpassen, so wie er öfter Wagenladungen von geschmuggeltem Schnaps bewacht hatte. Er musste mit dem Rabbi im Frachtzug nach Memphis reisen, während seine Verwandten eine gemächlichere Route über Philadelphia, Baltimore, Cincinnati und St. Louis nahmen, damit Zerubbabel ben Blish unterwegs
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