Der gefrorene Rabbi
für den zionistischen Traum werben konnte. Nachdem Ruby knurrend eingewilligt hatte, ging alles ganz schnell. Zusammen mit seiner muskulösen Eskorte verließ er zum ersten Mal seit Wochen die Wohnung. Sie nahmen die Untergrundbahn nach Hell’s Kitchen, und auf der Laderampe der Fleischerei Armour Star neben dem Hudson-Verschiebebahnhof war es nun an Ruby, den Übersetzer zu spielen, eine Verpflichtung, der er mit brüsker Knappheit nachkam. In der Annahme, dass die Angestellten im Büro sich weigern oder den Preis in die Höhe treiben würden, ging Ruby direkt zu den Frachtarbeitern, mit denen er und die Zwillinge bald einig waren.
Bald darauf fuhr an einem nebligen Morgen Anfang April ein frisch polierter Phaeton des Bestattungsinstituts Duckstein in den Kieshof. Direkt aus der Leichenkutsche wurde der Rabbi in seinem verwitterten Sarkophag auf einem Transportband in einen mit hängenden Schinken gefüllten Union-Pacific-Kühlwagen gebracht. »Kann man ihn nicht legen zu flanken?«, erkundigten sich die Brüder, aber Ruby lachte nur über ihre Sorge. Während der ganzen Operation sahen die ausreichend geschmierten Bahnarbeiter geflissentlich weg. In dem allgemeinen Trubel des Rangierens und Kuppelns, des hydraulischen Zischens und des Einknüppelns auf Hoboköpfe ging das Verladen eines alten Sargs in einen Güterwaggon praktisch unter. Ruby hatte bereits seinen Mantel und einen Schafpelz seines Vaters in den gekühlten Wagen gelegt. Als er gerade Tante Esthers Korb mit einem Dreitagesvorrat an knischeß und einer Thermoskanne Tee verstauen und selbst hineinklettern wollte, trat ein extravagant gekleidetes Aufgebot durch den wabernden Dampf auf dem Bahnsteig: eine Delegation des Bandenchefs Naftali Kupferman. Ruby fragte sich, warum sie so lange gebraucht hatten.
Sie wurden angeführt von Nafs Haupthandlangern Shtrudel Louie und Turtletaub, die beide einen gegürteten Mantel über ihrem Tropenanzug trugen. Lulki, die Niete, war ebenfalls dabei, zusammen mit zwei Frischlingen in weiten Hosen, die Ruby nicht kannte. Sie erschienen ihm wie ein Haufen von Gangsterkarikaturen mit seltsamen Spitznamen, Fantasieprodukte aus der Rubrik des Zeitungsschreiberlings Damon Runyon.
Shtrudel Louie tippte an die Krempe seines Stetson, um Ruby zu begrüßen. »Naftali richtet dir aus, dass es ihm leidtut wegen deinem Verlust, aber er findet es nicht nett, wenn du einfach ohne Abschied die Stadt verlässt.« Mr. Turtletaub schloss sich dieser Auffassung an und ergänzte, dass sein Boss schwer gekränkt war, während Shtrudel mit zusammengekniffenen Augen das Riesenduo musterte, das in seinen kurzen Hosen neben Karp stand.
Ohne auf den drohenden Unterton einzugehen, erwiderte Ruby: »Ich bin gerührt.« Er war davon ausgegangen, dass sie ihn überwachten, und hatte sogar damit gerechnet, dass sie ihn gleich nach Verlassen der Wohnung abfangen würden, aber jetzt wunderte ihn, dass sie bis zur letzten Minute gewartet hatten. Andererseits war ihm klar, dass er nicht einfach ungeschoren Naftalis Revier verlassen konnte. Niemand konnte das. So eine zügellose Freiheit war allein deshalb ausgeschlossen, weil er die Organisation des Scherzers in- und auswendig kannte. Obwohl er also wusste, dass man dem Verbrechen nicht den Rücken kehren konnte, tat er genau das und machte sich daran, in den Waggon zu klettern. Das war das Signal für Nafs Gorillas, ihre versteckten Knarren aus den Achselhalftern zu ziehen. Fast gleichzeitig rissen Jecheskel und Jigdal nun ebenfalls Waffen heraus und hielten mit ihren Mausern die halb automatischen Brownings in Schach. In der respektvollen Stille, die darauf folgte, empfand Ruby einen Anflug von Kameradschaft, ja sogar Dankbarkeit für die Unterstützung seiner Onkel, ein Gefühl, das gleich wieder verschwand. Dann ließ er seine Strickjacke von den Schultern gleiten und wurde wieder einmal zum Opfer seiner eruptiven Reflexe. Als sie seine geblähten Nüstern und die pochende Ader an seiner Schläfe bemerkten, senkten Shtrudel Louie und Turtletaub, die mit diesen Symptomen nur allzu vertraut waren, ihre Pistolen und traten einen Schritt zurück. In der Einsicht, dass Vorsicht die Mutter der Porzellankiste ist, räumten sie widerstrebend das Feld. Allein gelassen grapschten Lulki, die Niete, und die zwei Schlägerlehrlinge nach ihren Waffen, aber Ruby ließ ihnen keine Chance zum Ziehen. In seinem Zorn spürte er einen vertrauten Rausch, der jedoch genauso schnell verflog wie die Dankbarkeit; es
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