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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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verstaut, der nach Memphis im äußersten südwestlichen Zipfel des Bundesstaats unterwegs war.
    Es war früher Abend, als der Zug in den Bahnhof am Steilufer des Flusses einfuhr. Immer noch stocksteif in seinen Bewegungen, überwachte Ruby den Transport des zadik zu einem Gepäckwagen. Es war mild und bedeckt, und in der Dämmerung ließ ein gabelförmiger Blitz über dem Depot und dem Fluss unten die Himmelskuppel wie eine riesige Eierschale kurz vor dem Schlüpfen des Vogels erscheinen. Die gewittergeladene Luft schmeckte quecksilbrig, und der Geißblattduft, der den Gestank nach Schlacke und Motorenöl überdeckte, narkotisierte Rubys ohnehin schon benommenes Gehirn noch weiter. So nahm er kaum Notiz von einem näher kommenden Gepäckträger, der sich in unmöglichem Winkel gegen einen bis über Kopfhöhe mit Holz beladenen Handkarren stemmte. Da er nicht nach vorn sah, streifte der Mann den Gepäckwagen mit seinem übervollen Karren und löste dabei den Holzkeil unter einem Hinterrad. Der ungesicherte Wagen rollte langsam rückwärts über die Kiesböschung auf den Kopfsteinpflasterdamm und nahm allmählich Fahrt auf, während seine Fracht auf den Planken der Ladefläche hin-und herschaukelte. Ruby schaute mit eher geringem Interesse zu, als der Wagen den Hang hinunterjagte und mit hoch aufschießender Gischt in den Fluss raste, die sogleich zusammen mit dem Vorwärtsdrang des Gefährts verebbte. Der Sarg jedoch wurde ins Wasser geschleudert, und seine Zedernholzplanken zersplitterten beim Aufprall. Einige Sekunden lang trieb die Zinkverkleidung dahin wie ein Waschzuber, dann kenterte sie jäh und versank. Einen Atemzug später schoss ihr gefrorener Inhalt an die Oberfläche und wurde vom trüben Mississippi weiter und weiter stromabwärts gespült.
    In diesem Augenblick erwachte Ruby aus seiner Erstarrung. Seine Gliedmaßen waren noch immer so steif, dass er sich wie in einer Rüstung fühlte, doch als er die Böschung hinuntertaumelte, fielen die Panzerhandschuhe und Beinschienen von ihm ab. Nach der Hälfte der Strecke sprintete er bereits mit seiner gewohnten Geschwindigkeit. Am Fuß der Anhöhe sprang er in den eineinhalb Kilometer breiten Fluss und planschte, belebt vom kalten Wasser, auf den fliehenden Eisbrocken zu. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er nicht schwimmen konnte. Trotzdem gelang es ihm, sich strampelnd und hustend an der Oberfläche zu halten, während sich der zadik auf dem gewundenen Strom seinem Griff zu entziehen drohte. Wasserspuckend ruderte er verzweifelt mit Armen und Beinen, um den ihm anvertrauten gefrorenen Block zu erreichen. Diesmal bekam er den rutschigen Klumpen zu fassen, doch gleich darauf entglitt er ihm wieder, und Ruby sank unter die Wasseroberfläche. Er spürte, wie das Gewicht seiner Kleider an ihm zog und ihn der teerschwarze Fluss nach unten drückte, doch als er sich schon damit abfinden wollte, dass er ertrinken musste, trug ihn die Strömung aus den Tiefen wieder nach oben mitten in einen Strudel, in dem sich auch der Eisblock verfangen hatte und sich drehte wie eine Kompassnadel. Sofort griff Ruby wieder nach der glitschigen Masse, bis er sie mit beiden Armen umschlungen hielt, und ließ auch nicht los, als sie sich um die eigene Achse kreisend aus dem Mahlstrom befreite und weiter flussabwärts schwamm. Ein gleißender Blitz erleuchtete die Brücke, die am Ufer vertäuten, ausrangierten Raddampfer und den ruhenden Alten in seinem kristallenen Schrein, an den Ruby bis zu diesem Moment nicht geglaubt hatte. Es folgte ein ohrenbetäubendes Krachen, als wäre dem Allmächtigen die Hose geplatzt, ein weiterer Blitz zuckte über das Wasser, und Ruby erkannte, dass er und der Rabbi nicht allein im Fluss waren. Neben ihnen glitt eine Armada von Eisflößen dahin, die der hartnäckige Winter in den nördlichen Staaten freigegeben hatte, damit sie sich im Golf von Mexiko auflösen konnten. Mit einem Donnerschlag öffneten sich die Schleusen des Himmels, die Sintflut setzte ein, und sowohl der Jüngling als auch der Alte, auf dem er trieb, wurden von einem Fangnetz erfasst, das zwei farbige Burschen von ihrem Boot ausgeworfen hatten.

2001
    W eil der Videoverleih, in dem Lou Ella arbeitete, nur Filme anbot, die auf Broadway-Musicals beruhten (der Besitzer war ein vermögender Exzentriker), gab es nur einen kleinen Kundenkreis. Daher hatte Lou viel Zeit zum Lesen. In letzter Zeit kam sie trotz Bernies Unbehagen über das Buch immer wieder auf die weniger didaktischen Kapitel in

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