Der gefrorene Rabbi
machte ihm keinen Spaß mehr, seine Feinde zu würgen, weil ihm gar nichts mehr Spaß machte. Doch diese Erkenntnis bremste in keiner Weise seine kämpfenden Gliedmaßen.
Als sie das Einmanngefecht ihres Neffen beobachteten, tauschten die Zwillinge kurze Blicke aus, und Jigdals anerkennend hochgezogene linke Augenbraue war wie ein Spiegelbild der rechten Braue seines Bruders.
Der Zug war schon in Bewegung, und die Bahnhofspolizisten stürmten mit schrillenden Pfeifen auf den Tumult zu, als sich Ruby von seinen erlahmenden Gegnern losriss und in den Waggon hechtete. Er spähte hinaus und sah, dass sich die Ganoven wankend in verschiedene Richtungen zerstreuten (die Zwillinge waren bereits verschwunden), dann ließ er die schwere Wagentür zufallen. Wenn er gelauscht hätte, als sich der Zug unter den Hudson schob und in der Industriewüste auf der anderen Seite wieder auftauchte, hätte Ruby vielleicht etwas gehört, was wie das verspätete Echo der zuschlagenden Tür klang - aber in Wirklichkeit der Absturz der New Yorker Börse war. Nicht dass dieses Geräusch Kid Karp viel bedeutet hätte, denn für ihn war die Party sowieso vorbei. Ohne zu prüfen, ob sich die Tür von innen wieder öffnen ließ, zog er den Schafpelz über, der aus dem Besitz seines Papas stammte, und hockte sich mit dem Rücken an den verrottenden Sarg. Die Kühlmaschinen stöhnten, als sie einen polaren Luftzug bewegten, der mit dem Gestank von Äthylchlorid aus den Behältern an beiden Enden des Waggons versetzt war. Es war stockfinster, und Ruby zitterte zusammengekauert auf dem Holzboden. Schon schlich sich eine Taubheit in seine Extremitäten, das Pendant zu der Taubheit in seinem Kopf. Nicht ein einziges Mal während der Fahrt war er versucht, aufzustehen und den Inhalt des Schreins zu inspizieren; er erleichterte sich nicht einmal in dem Eimer, den seine Onkel zu diesem Zweck hinter einem Gestell mit kalten Schweineschultern hinterlassen hatten, so paralysiert war sein Inneres vom Frost. Seine Gliedmaßen wurden starr, die Lider hingen auf halbmast fest, Raureif bedeckte seine spärlichen Bartstoppeln, und seine Lippen waren anilinblau. Als Begleiter eines in Eis gefangenen Mannes wurde er selbst immer mehr zu festem Eis in Gestalt eines Mannes.
Der betörende Rhythmus der Räder - meschugge meschugge a schrekleche sach - besiegelte Rubys Trance, und er wurde zum passiven Zeugen von Erinnerungen an die Knochen, die er gebrochen, Damen, die er entwürdigt, und Herren, die er aus einer Laune heraus in den Seitengassen und Kellerclubs gedemütigt hatte. Er ließ sie Revue passieren wie eine Abfolge von Schatten, die von einer anderen Inkarnation übrig geblieben waren, von einer Inkarnation, die keinen Bezug zu der jetzigen ratternden Qual eines Lebens nach dem Leben hatte. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und wusste nicht, ob er wachte oder träumte; wenn er erfror, wäre es ein kläglicher Abgang, und soweit er überhaupt noch denken konnte, überlegte Ruby, ob er den Schafpelz abstreifen sollte, um genau dieses Ende herbeizuführen. Aber dann würde er zu leicht davonkommen, außerdem war er nicht sicher, ob er überhaupt noch die Arme heben konnte.
Lynchburg, Virginia, war die Endstation des Zugs. Als die Frachtarbeiter seinen Güterwaggon zum Entladen öffneten, wurden sie genauso starr wie die Erscheinung, die sich ihren Blicken darbot. Schließlich schickte jemand nach dem priemkauenden Vormann, der Ruby ins Bahnhofsbüro tragen ließ, um festzustellen, ob er noch lebte. Dort setzten sie ihn auf einen Kanonenofen und fingen an, seine steifen Glieder auseinanderzufalten, als würden sie einer rostigen Maschine gut zureden. Sie zerrten an seinem Kiefer, bis ein undeutliches Gemurmel herausdrang, das ihnen Lohn versprach, wenn sie ihm beim Verladen seiner Fracht in einen Zug nach Westen halfen. Doch mit dem Auftauen seiner Gelenke lösten sich auch Blase und Darm. »Hat sich in die Hose gemacht, der Kerl«, erklärte der Vormann, während die Arbeiter angeekelt aus dem Büro flohen. Einige kehrten allerdings zurück, um die Zuwendungen des beschmutzten Passagiers in Empfang zu nehmen. Während er sich säuberte, holten sie Rubys Mantel und schafften den Rabbi auf einer Draisine über einen komplizierten Gleisknoten von der Union-Pacific- zur Sequatchie-Valley-Linie. Einen Tag später wiederholte sich dieser Vorgang so ähnlich am Güterbahnhof von Knoxville, und der Sarg wurde in einem Kühlwaggon der Tennessee Railroad
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