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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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das Wissen über Ruby beschränkte sich fast ausschließlich auf Gerüchte, da er nur selten ausging, um sich bei Rosens Imbiss einen Teller kischkeß zu holen. Ungewaschen und ungeschoren, die Haut fleckig von Frostbeulen, war er mit seinem in der Sonne dampfenden Schafpelz ein Schandfleck, auf den die Bewohner der North Main Street lieber verzichtet hätten. Es umwehte ihn die unfrohe Aura des Büßers, und wer wollte schon an die den Juden auferlegte tägliche Buße erinnert werden, die darin bestand, das Brot im Schwei-ße des eigenen Angesichts zu verdienen? Dabei folgte Ruby keinem formellen Programm der Selbstgeißelung, da er einen Zustand der Leidenschaftslosigkeit weit jenseits des Selbsthasses erreicht hatte. Er war nur zu dem Schluss gekommen, dass seine Aufgabe nach der Rettung des Rabbis aus dem nassen Grab darin bestand, sich um das alte Fossil zu kümmern. Das war das Äußerste an Zielstrebigkeit, wozu er noch fähig war. Außerdem war ihm die Betäubung während der frostigen Überfahrt zur Gewohnheit geworden, und die Temperatur im Kühlraum schien ihm fast angenehm.
    Aber die Zwillinge hatten andere Pläne mit ihrem Neffen. Einige Angelegenheiten hatten sich schon während der Zugfahrt nach Memphis oder kurz darauf auf günstige Weise gefügt. Zerubbabel ben Blish und Schinde Esther hatten sich, entmutigt von der Größe und Disharmonie des amerikanischen Kontinents, in wechselseitiger Fürsorglichkeit aneinandergeklammert. Die anpassungsfähigere Esther hatte ungeahnte Kraftreserven mobilisiert, um Zerubbabel zu trösten, dessen Hochachtung für sie zum Ende der Reise hin schon fast an Götzenverehrung grenzte. Umgekehrt hatte sich Esther völlig zur Propaganda des Genossen ben Blish bekehren lassen, und als sie in Tennessee eintrafen, galten ihre Gedanken (wenn nicht ihm) fast ausschließlich dem jüdischen Heimatland. So stand ihr Entschluss fest: Sobald sich Jochebed in Memphis einigermaßen eingelebt hatte (von einer Rückkehr nach New York war nicht mehr die Rede), wollte sie dem für sie bestimmten Mann nach erez Israel folgen und sich mit ihm trauen lassen.
    Inzwischen war auch die Witwe, die mit ihrer gebeugten Haltung und in den Kleidern ihres verstorbenen Mannes keinerlei Ähnlichkeit mehr mit ihrer früheren Erscheinung hatte, immerhin ein wenig aus dem Nebel der Melancholie erwacht. Zum Teil war es wohl die Stadt Memphis mit ihrem schweren Frühlingsaroma, die Jochebeds Lähmung genauso wirkungsvoll gelöst hatte, wie die Kälte die ihres Sohns verfestigt hatte. Obwohl sie vorzeitig gealtert war und ihr Gesicht sich euphemistisch als »markant« bezeichnen ließ, legte Jochebed nach ihrer Ankunft im mittleren Süden eine neue Lebensfreude an den Tag, die sich besonders in der rasanten Produktion von kandierten Früchten und Eiscreme äußerte.
    Marvin und seine Frau Ida, hinter deren verkniffenem Gesicht sich eine Frohnatur verbarg, waren natürlich überwältigt von diesem Einmarsch einer ihnen zum größten Teil unbekannten Verwandtschaft. Sie waren eingeschüchtert von den Kugelköpfen und der Ochsenstärke der Zwillingsbrüder und verblüfft über Esthers Heiratspläne und die Eigenheiten der Witwe. Dennoch boten sie allen Unterkunft, sowohl in ihrer weitläufigen Villa mit den grünen Dachschindeln als auch in einem Gästehaus, das man durch eine Glyzinienlaube im Garten betrat. In diesem kleinen Bau richtete Jochebed nach und nach eine Art Laboratorium für die Herstellung ihrer gefrorenen Süßspeisen ein und trug mit Idas Zustimmung aus deren gut ausgestatteter Küche Eimer, Spachteln und die notwendigen Konditorzutaten zusammen.
    In Anbetracht ihres Glücks wollte die verlobte Esther Jochebed nun so schnell wie möglich loshaben und hatte zu diesem Zweck gleich zu Beginn mit ihrem Bruder konferiert. Da das Gästehaus ohnehin fast das ganze Jahr über leer stand, konnte er es doch an die Witwe vermieten und sich so etwas dazuverdienen. Damit rannte sie bei Marvin offene Türen ein: »Hob ich gedacht schon das Gleiche.« Das kinderlose Paar, das seine Unfruchtbarkeit mit Katzen kompensierte, hatte die Witwe sogleich ins Herz geschlossen, als wäre sie in ihrem wilden Aufzug so etwas wie eine weitere Streunerin. Dann kamen die Sorbets, Tutti Frutti und gefrorenen Eiercremes, die Jochebed bei den gemeinsamen Abendessen servierte und die Marvin auf eine schlaue Idee brachten. Jochebed war zwar verschroben, aber das schränkte ihre Werbewirksamkeit nicht ein. Er wollte sie unter

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