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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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eine Markise vor seinen Laden postieren, wo »sie wird herrschen als Eiskönigin«. Er grinste vergnügt über seinen spontanen Slogan. Die im glühend heißen südlichen Sommer stets begehrte Eiscreme würde mehr Kunden in seinen Laden locken, als es seine schwarzen Ausrufer je geschafft hatten.
    Eine Zeit lang konnten sich Marvin und Ida, deren Wohlstand sie von ihren alten Nachbarn im Pinch entfremdet hatte, für das neue Familienleben erwärmen, und den Verwandten gingen zwar allmählich die Gründe für eine Verlängerung ihres Aufenthalts aus, aber es fiel ihnen schwer, diese Gastfreundschaft aufzugeben. Die Zwillinge, die seit Jahrzehnten im kollektiven Wohnen geübt waren, erledigten ohne Aufforderung und mit jongleurhafter Fingerfertigkeit die Haushaltsaufgaben; Zerubbabel, der zum Dinner hohen Kragen und Seidenschlips trug, zitierte nach dem Essen Verse von Bialik und Tschernichowski; und Jochebed bereicherte die Tafel mit leckeren Nachspeisen. Der einzige Missklang - der letztlich allen die gute Stimmung verdarb - ging von Esther aus, die unter dem Einfluss ihres Verlobten zu einer Ideologin geworden war. Trotz der Freude, die sie über die Wiedervereinigung bekundete, stellte sie schon bald darauf immer wieder die Geduld ihres Bruders mit Kritik an seinem bürgerlichen Lebensstil auf die Probe und ereiferte sich sogar darüber, dass er sich in einem solchen Kaff niedergelassen hatte.
    »Woß sie machen sowieso in Memphis, die Juden?«, fragte sie eines Abends, als die Zwillinge gerade wie geschickte Elefanten im Porzellanladen den Tisch im Speisesalon abräumten.
    Darauf antwortete Marvin, für den die Bluff City immer für die Chance zum Aufstieg stand, in gereiztem Ton: »Und woß sie machen in Palästina?«
    Danach artete das Gespräch in Beschimpfungen aus, und der Gastgeber und seine Schwester redeten sich fortan nur noch mit »Rote Esther« und »Herr Baron« an. Binnen einer Woche waren Zerubbabel und seine Versprochene schmollend nach New York abgereist, von wo sie mit einem Dampfer der Compagnie Générale Transatlantique nach Marseilles und mit der Fähre weiter nach Haifa zu fahren gedachten. Doch vorher begleitete Esther Jecheskel und Jigdal - die ihre Schwester in guten Händen wussten -, zum Kühlhaus Blochman. Dort informierte sie Jochebeds Sohn im Namen der Zwillinge, dass er mit ihnen nach erez Israel reisen würde. Nachdem sie ihn im Einsatz erlebt hatten, hatten seine Onkel erkannt, dass er trotz seiner permanenten Unterkühlung für die Entwicklung des jischuw von großem Nutzen sein konnte. Da er seine Zeit in Amerika ohnehin nur vertrödelte, sollte er seine Fähigkeiten besser für eine Sache verwenden, die größer war als er. So sehr hatten sie sich an die völlige Selbstaufopferung gewöhnt, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, dass er andere Absichten haben könnte.
    Doch einmal abgesehen davon, dass er dem Rabbi in seinem Reliquienschrein Gesellschaft leisten wollte, hatte Ruby tatsächlich keine Pläne. Aber was war Palästina? Er hatte nur eine vage Vorstellung: irgendetwas von einem Land ohne Volk für ein Volk ohne Land. Parolen dieser Art waren ihm zu Ohren gekommen. Für sein winterliches Bewusstsein klang das, als würden sich die beiden Seiten der Gleichung aufheben mit der Folge, dass die Juden ganz verschwanden. Natürlich, überlegte sich Ruby, wenn er irgendwo hingehörte, dann nach Nirgendwo. Außerdem hatte Avner Blochman, der Besitzer des Etablissements, in dem er Logis bezogen hatte, die Nase voll von seinem unerwünschten Mieter und schließlich all seinen Mut zusammengenommen, um Ruby und seinen gefrorenen Schutzbefohlenen hinauszuwerfen. »Is doß kein Spukhaus«, hatte Avner mit seinem Hundeblick erklärt, dessen Kunden wegen der Berichte über den Rabbi und seinen Hüter ausblieben.
    Draußen am baumbeschatteten Parkway pressten Marvin Karps Besucher, die von Rubys Notlage gehört hatten, auch noch das letzte Quäntchen an gutem Willen aus ihrem Gastgeber heraus und forderten ihn auf, Platz für das Vermächtnis seines Bruders Schmerl zu schaffen. Schließlich erklärte sich Marvin bereit, das makabere Andenken in einem alten Wäschezuber in seinem Weinkeller einzulagern, allerdings mit der Einschränkung, dass dieses Arrangement mit der Aufhebung der Prohibition enden würde, da er dann die Möglichkeit hatte, den gefrorenen Alten gegen eine Ladung Sauvignon blanc einzutauschen. Außerdem ließ er keinen Zweifel daran, dass sich sein Entgegenkommen nicht

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