Der gefrorene Rabbi
auf den grimmigen Wächter des rebbe erstreckte.
Ruby nahm die Nachricht von seiner drohenden Obdachlosigkeit mit einem Achselzucken auf. Die Trennung von dem Rabbi würde ihm den letzten Grund nehmen, sich nicht vom Fleck zu rühren; eine Aussicht, die ihn abwechselnd beruhigte und verunsicherte. Auf jeden Fall hatte die Kälte sein Inneres in einem Ausmaß durchdrungen, das vermuten ließ, dass er nun das Wesen von Elieser ben Zephir in seinen Knochen trug. Seine Mutter hatte Ruby ein- oder zweimal in ihrer Gartenlaube besucht, dabei aber festgestellt, dass jede Verbundenheit mit ihr erloschen war. Mit dem aschefarbenen Schopf und den hölzernen Bewegungen, die nichts mehr von der einstigen weiblichen Anmut besaßen, hatte er sie kaum wiedererkannt. Wenn sie ihm zerstreut in die Wange kniff oder ihm den Reif vom Schädel wischte, bevor sie wieder zu ihrer Eismaschine zurückkehrte, ähnelte sie eher ihrem toten Gatten als sich selbst. Letztlich, so schloss er, bedeutete er ihr nicht mehr als die Katzen, die in ihrem Häuschen aus und ein gingen. Und so gehörte es sich wohl auch für einen Sohn, der seine Familie zerstört hatte. Er war verstoßen aus allen Zusammenhängen, die ihm hätten teuer sein müssen, und nahm dies als herzzerreißend und sogar tragisch wahr, etwa wie eine Filmschnulze. Außerdem war es eine gerechte Strafe, wenn Ruby von seinen breitschultrigen Onkeln in eine gottverlassene Wüste verschleppt wurde, wo er damit rechnen musste, dass die heiße Sonne sein betäubtes Empfindungsvermögen auftaute.
»Ich überleg es mir«, antwortete er den Zwillingen, die ihn wissen ließen, dass er es sich auf der Reise ins Heilige Land überlegen konnte. Denn sie hatten bereits mit einem kleinen Teil der für den Nationalfonds gesammelten Spenden eine Passage auf einem Viehtransporter gebucht, der aus dem Hafen von New Orleans auslaufen sollte, und sich erlaubt, auch für Ruby eine Schiffskarte zu kaufen.
So kam es, dass er zehn Jahre später neben einem bernsteinfarbenen Scheinwerfer auf dem Wachturm einer Oase namens Tel Elohim stand, die einem Sumpf abgerungen worden war. Es war dieselbe Gemeinschaftssiedlung in den Gebirgsausläufern Obergaliläas, in die sich Ruby und seine Onkel nach dem Araberaufstand von 1929 zurückgezogen hatten. Mit diesem Gemetzel wurden sie begrüßt, als Ruby zum ersten Mal den Fuß in dieses Land setzte; damit war dem Neuankömmling von Beginn an klar, dass das Land ohne Volk bereits bewohnt war und dass die Bevölkerung nicht scharf darauf war, ihre ärmlichen Straßen, mondbeschienenen Dünen, Kamelpfade und wasserlosen Brunnen mit dem Volk ohne Land zu teilen. Dennoch folgte Ruby den Anweisungen der Zwillingsbrüder, die überall und nirgends zu Hause schienen. Da die Kategorien Richtig und Falsch nur für Gruppen existierten, für die etwas auf dem Spiel stand, waren die genauen Einzelheiten der Situation für den frischgebackenen Einwanderer nicht relevant. Nachdem er das Schiff verlassen hatte, interessierte ihn eigentlich nur die Gefahr für Leib und Leben (die einzige Aussicht, die sein lustloses Gehirn aufmuntern konnte), und es hatte ganz den Anschein, als könnte ihm Palästina dazu reichlich Gelegenheit bieten. Doch konfrontiert mit dem Tod, sprang er ihm mehrmals von der Schippe. Dabei ging es ihm weniger darum, am Leben zu bleiben, als darum, seine Qual zu verlängern. Aber wem wollte er denn etwas vormachen? Es gab keine Qual, keine Angst, keinen Rausch des Gefechts, nur Einsätze und dazwischen die Langeweile, die der eigentliche Schrecken war. Denn mochten seine Sinne noch so abgestumpft sein, Rubys Gedächtnis blieb intakt, und immer wieder suchten ihn peinigende Erinnerungen heim.
So gab er seine Unabhängigkeit auf und legte sein Schicksal in die Hände der erfahrenen Aktivisten Jig und Jes, wie er sie nannte. Sie sorgten für seine gründliche Ausbildung mit Waffen und Sprengstoff, Bereiche, in denen er schon mit eigenen Kenntnissen aufwarten konnte, und im Hinblick auf Tarnoperationen, die ihm ohnehin im Blut lagen. Sie schulten ihn darin, mit seinem Zorn zu haushalten, den er nach Belieben abrufen konnte, auch wenn er inzwischen mit ihm gar nichts mehr zu tun hatte, was Ruby zu einem noch vollkommeneren Werkzeug der Vergeltung gegen die Feinde des jischuw machte.
In den folgenden Jahren ließ er keinen einzigen erbarmungslosen Zyklus des Blutvergießens aus. Obwohl der sogenannte Araberaufstand zu Ende und die Monotonie aus Terror und
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