Der gefrorene Rabbi
Kinder, und allenthalben wurden Antichristen entdeckt. Auch Bernies rebbe, der wie ein Komet aus seinem langen Schlaf aufgetaucht war, lief Gefahr, als Krimineller verhaftet zu werden. Jüngste Zeitungskommentare versuchten, den Meister und seine Anhänger mit subversiven Aktivitäten in Zusammenhang zu bringen, und ließen sogar durchblicken, dass das Haus der Erleuchtung eine terroristische Zelle war. Und dies trotz einer Philosophie, die nach Lous Auffassung weniger mit Osama bin Laden zu tun hatte als mit Norman Vincent Peale. Aber es beunruhigte sie, dass Bernie so offenkundig aus dem Gleichgewicht war. Ob er das Zeug zum Heiligen hatte, war noch fraglich, aber zum Helden taugte er bestimmt nicht, und sie fürchtete, dass heroische Maßnahmen erforderlich waren, um Rabbi ben Zephir zu retten. Ihr einziger Trost war, dass sie noch einige Kapitel von Grandpa Rubys Tagebuch vor sich hatten, und sie glaubte, den Jungen von Dummheiten abhalten zu können, solange das Ende des Journals noch nicht erreicht war. Am liebsten wäre Lou nie zu diesem Ende gelangt.
1929-1947
A nscheinend steckte ich mich beim Ringen mit dem Rabbi im Fluss mit einer Art jiddischem Virus an«, las Bernie in Lou Ellas Zimmer vor, wo sie sich manchmal säuerlich als das ungemachte Mädchen auf dem Bett bezeichnete. »Es war ein Virus mit langer Inkubationszeit, denn es vergingen viele Jahre, ehe das Fieber in mir zum Ausbruch kam.«
Als seine Verwandten mehrere Wochen später eintrafen, fanden sie Ruby neben einer Kiste, die den gefrorenen Heiligen enhielt, in einem »Frigidarium« des Kühlhauses Blochman in der Nähe der North Main Street vor. Das Allzweckdepot, in dem Wein, Pelze, Antiquitäten und Arzneien neben Fleisch, Gemüse und Obst lagerten, befand sich gleich um die Ecke von Karps Gemischtwarenhandlung, die von Rubys Onkel Marvin betrieben wurde. Der beleibte Mann mit dem schütteren Haar war normalerweise sehr großzügig und bot seinem jungen Neffen ein Quartier in seinem mediterranen Haus am Parkway an, war jedoch sichtlich erleichtert, als der einsilbige Bursche seine Einladung ausschlug. Denn obwohl man ihn vorher verständigt hatte, sah sich Esthers Bruder, nachdem er Vorkehrungen für die Einlagerung von Rubys Fracht getroffen hatte, völlig überfordert, als er den Neffen mit dem unbewegten Gesicht und seinen Schutzbefohlenen vor sich hatte. Ruby seinerseits hatte keine Lust mehr auf neu erworbene Verwandte und zog es vor, hinter der verschlossenen Tür des Lagerhauses zu kampieren, wo er den Rabbi im Auge behalten konnte.
Sowohl Blochmans als auch Karps Etablissement lag in einem Viertel namens Pinch, das von Krämerläden geprägt war. Diese wurden von russisch-jüdischen Einwanderern betrieben, die in den heruntergekommenen Wohnungen über ihren Geschäften hausten. Sie waren die Schlacke einer verkümmerten Gemeinde, die im Gegensatz zu dem rührigen Marvin Karp (der das inski am Ende seines Namens freiwillig aufgegeben hatte) nicht genug Erfolg gehabt hatte, um ihr Getto zu verlassen, und sich daran klammerte wie an eine Insel im unerforschten Meer. Diese Insel wurde westlich vom Fluss begrenzt, auf dem reger Lastkahn- und Paketbootverkehr herrschte, und war umringt von einer Stadt, deren Spektakel die Nerven der Juden oft auf eine harte Probe stellten.
Zum einen gab es da auf der Front Street die Umzüge des Ku-Klux-Klans in Baumwolltüchern, die zum Teil aus Karps Gemischtwarenhandlung stammten. Zum anderen gab es das Tabernakel am Steilufer, aus dem die Stimme des Wanderpredigers Billy Sunday bis hinauf zur North Main Street schallte. Manchmal wurde sogar die Souveränität des Pinch verletzt, beispielsweise wenn die Stadtväter das Suzore Theater schlossen, um einen Film mit Theda Bara (vormals Theodosia Goodman) zu zeigen, einem Filmstar von zweifelhafter Moral; oder wenn ein Vertreter des Gesundheitsamts im Nachbarschaftszentrum am Market Square erklärte, dass Charlestontanzen (seit wann tanzten Juden Charleston?) zu einer tödlichen Bauchfellentzündung führen konnte. Dazu kamen die Kletterpflanzen und Giftlianen, die im Frühling die Mietshäuser überwucherten, und der widerliche Geruch, der nach der Verbrennung eines Negers einige Blocks weiter in Catfish Bay tagelang über dem Pinch hing. Es gab also wahrlich genug, was die Gemütsruhe der Juden erschütterte, auch ohne dass ein zwielichter junger Fremder daherkam, der Gerüchten zufolge der Hüter eines alten Mannes in einem Eisklumpen war.
Denn
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