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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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ein hohes Maß an Eigeninteresse auf, wie es ihr seit ihrer Lektüre von Ayn Rand nicht mehr begegnet war. Dennoch konnte sie einer guten Hagiografie nicht widerstehen, vor allem wenn sie ein noch lebender Heiliger selbst zu Papier gebracht hatte.
    Das hieß aber nicht, dass Lou den Wunsch hatte, das Haus der Erleuchtung zu besuchen. Es reichte ihr völlig, einen Freund mit eigenen heiligen Neigungen an der Backe zu haben. Außerdem machte sie sich große Sorgen um Bernie und gab sich zum überwiegenden Teil auch die Schuld an seiner Verfassung. Sicher war sie frustriert gewesen, als er sie nicht aus dem Diesseits herausreißen konnte, doch nachdem sie all ihre Reize in die Waagschale geworfen hatte, um ihn zurück auf die Erde zu holen, fragte sie sich jetzt, ob ihre Mühen nicht zum Bumerang geworden waren. In jüngster Zeit schien er in einer permanenten Ecstasis interrupta zu verweilen - ein Ausdruck, den sie selbst geprägt hatte. In ermüdender Gleichförmigkeit äußerte er seine Dankbarkeit über ihre gut gemeinten Verführungsversuche und versicherte ihr, dass er vielleicht für immer auf die andere Seite gewechselt hätte, wenn sie ihn nicht zurückgehalten hätte. So eine Frau war, wie er fand, viel edler als die köstlichsten Perlen, was Lou zu einer trockenen Bemerkung über »alte Sprüche« veranlasste.
    »Wahrscheinlich«, stichelte sie ein wenig boshaft, als sie eines Abends unter der Harahan Bridge saßen und einen spätsommerlichen Sonnenuntergang betrachteten, »muss man erst inkompetent sein, bevor man kompetent wird.« Kurz darauf war sie sprachlos, als Bernie plötzlich das Tagebuch seines Großvaters zur Seite schob und rief: »Heirate mich!« Der Antrag wurde begleitet vom Ticktack der Scheibenwischer, die er bei seinem Versuch, auf die Knie zu fallen, versehentlich angeworfen hatte. Eingeklemmt zwischen dem Armaturenbrett und Sue Lily, die auf Lous Schoß wippte, versprach er ihr, in einem Zustand selbst auferlegter Geerdetheit zu verharren, bis sie für ihn bereit war.
    Lou klappte den Kiefer ihrer kleinen Schwester zu, die irgendwie nicht älter werden wollte, und verstaute sie auf dem Rücksitz. »Und so was ist in deinem Spatzenhirn als Treue abgespeichert?«, erwiderte sie, als sie die Sprache wiederfand. »Oj gewalt, bin ich treu, weil ich nicht anders kann«, spottete sie, da sie der Gelegenheit zu einem Seitenhieb auf den Grund seiner Keuschheit nie widerstehen konnte. Obwohl sie genügend Realitätssinn besaß, um zu wissen, dass eine Heirat kein Thema war, stellte sie sich die Hochzeit vor: der knochendürre Bräutigam in einem Zylinder wie der Schneider Motel aus Anatevka (inzwischen kannte sie sich gut aus im Musikarchiv des Videoverleihs), die Braut in was? - vielleicht Sally Bowles’ Strapsbustier und Netzstrümpfen über dem Delfintattoo auf ihrem Oberschenkel. Das glückliche Paar unter einer chupe aus Ozelotpelz mit den Füßen »eine Handbreit über der Erde«. Aufgebracht über ihre nutzlosen Fantasien, fauchte sie: »Komm da hoch.« Als er wieder saß, fügte sie fast zärtlich hinzu: »Bernie Karp, du bist ein Besucher aus dem All, und eines Tages …« Sie verstummte.
    Sie sah sich zwar gern als abgeklärte Zeitgenossin, aber manchmal hatte sie den Eindruck, diesem Jungen einfach nicht gewachsen zu sein. »Wahrscheinlich erwartest du, dass ich mich geschmeichelt fühle von deiner wahnsinnigen Leidenschaft für mich. Ich komme mir vor wie so eine Verführerin, wie Sa- lou -me.« Anklagend verweilte sie auf der mittleren Silbe.
    »Fühlst du dich nicht geschmeichelt?«, fragte Bernie arglos.
    Sie musterte seinen wirren Haarschopf und den ausgemergelten Körper, von dem er mit immer größerer Autorität Besitz ergriff. »Ja … schon.« Sie berührte seine Wange, bevor sie ihm einen Klaps versetzte.
    Sie hatte ihn zum Zeugen des Alltags bestellt, und jetzt tat es ihr leid. Denn je genauer er das irdische Leben betrachtete, desto besessener wurde er davon, während ihm gleichzeitig immer mehr bewusst wurde, wie dringend es auf die Erlösung angewiesen war. Umso sinnloser und alberner wirkte in diesem Licht sein neuer Wunsch, wenigstens einen kleinen Winkel der Schöpfung zu retten. So hatten sich seine Gefühle auf gefährliche Weise verwirrt.
    Und angesichts der aktuellen Gewalt auf der Welt, deren blutige Folgen auch nicht vor der Schwelle Amerikas haltmachten, war es praktisch ein Verbrechen, verliebt zu sein. Kinder denunzierten ihre Eltern, Eltern fürchteten ihre

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