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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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was im Grunde bedeutete, dass sie Haustiere und für die Kooperative eine nutzlose Bürde waren. Jüngst hatte das Sekretariat Ruben ben Niemand ein Ultimatum gestellt: Wenn er die Herde nicht zur Woll- und Fleischgewinnung freigab, würde er die Stelle als Hirt verlieren.
    Daraufhin brach er ausnahmsweise sein Schweigen, um zu antworten: »Wenn der dritte Tempel gebaut wird, könnt ihr sie als Blutopfer verwenden.« Und einige der kanonischeren Delegierten gaben sich mit dieser Erklärung sogar zufrieden. Eines Nachmittags, der wie alle anderen Nachmittage war, suchte er beim Weiden seiner Herde unter einem Überhang aus rotem Lehm Schutz vor der Fünfuhrsonne. Die Aufregung, die ihn seit der Ankunft des Mädchens nicht mehr losgelassen hatte, wurde begleitet vom Plärren des Leithammels, vom Blöken der Schafe und vom Bellen des dummen Köters Abimelech. All dies ertrug Ruby wie Geräusche, die auf den straff gespannten Saiten seiner Nerven erzeugt wurden. Plötzlich bemerkte er, dass links jemand in Sandalen den büschelbewachsenen Hang herabkam, und da tauchte auch schon das Mädchen Schprinze mit einem Buch in der Hand auf. Als sie sich weit genug von den Grenzen der Siedlung entfernt und auch noch im Schutz einer Schafherde glaubte, schob sie den Flanellrock hinauf zu den Hüften und kauerte sich hin, um zu pinkeln. In diesem Moment begann Abimelech, der vor Neugier verstummt war, wieder sein Gekläffe.
    Das Mädchen blickte auf, erschrak aber nicht, als sie den Herrn des Hundes in seinem Spalt bemerkte. Während sie weiter die Erde wässerte, erkundigte sie sich in einem Ton vollkommener Unbefangenheit: »Bistu a sched?« Bist du ein Dämon?
    Ruby fühlte sich verwirrt und in die Enge getrieben und glitt tiefer in seine Höhle, bis er mit dem Rücken an die Erdwand stieß. Zum einen war er überrascht, dass er die Frage verstanden hatte, da seine Jiddischkenntnisse sehr dürftig waren. Allerdings lag die Sprache seit dem Zuzug der Illegalen wieder in der Luft. (Sie blieben nie lange dabei, da das mame-loschn als Sprache der Opfer galt und aus diesem Grund in ha-erez praktisch geächtet war.) Zum anderen war die Frage so ernsthaft gestellt worden, dass Ruby ins Grübeln kam. In den Jahren im Heiligen Land war er schon vieles gewesen, und das Wenigste davon hatte etwas mit dem Leben normaler Leute gemein. Letztlich konnte er nur mit ergeben erhobenen Händen antworten. »Ch wajß nit.«
    Nachdem sie den Rock hatte fallen lassen, unter dem sie anscheinend nichts trug, stand das Mädchen auf und trat näher.
    »Ich bin a sched«, bekannte sie mit ihrer flötenhaften Stimme, und wieder staunte er über ihre Offenheit. »Ich bin a schlechte jiddische tochter.«
    Ruby hatte keine Ahnung, was er mit dieser Mitteilung anfangen sollte, aber es faszinierte ihn, dass sie sich ihm ohne jede Rechtfertigung und Besorgnis anvertraut hatte. Wer hatte keine Angst vor dem Ba’al schaticha? Schprinze, die immer Abstand hielt von den Siedlern, stand vor ihm, als hätte sie erkannt, dass er derselben Gattung angehörte wie sie. Ruby hielt es nicht mehr aus, und er kroch unter dem Überhang hervor, um ihr mit wild pochendem Herzen gegenüberzutreten. Zahllose Begegnungen mit dem Tod hatten sein Herz nicht so heftig schlagen lassen. Das Mädchen traf keine Anstalten, sich zurückzuziehen, und Ruby fragte sich, was sie von ihm erwartete. Da er ihren bohrenden Blick nicht mehr ertragen konnte, senkte er den Blick, der auf das Buch in ihrer Hand fiel.
    »Woß lejnstu?« Seine Stimme war noch immer rau von den alten Wunden.
    Sie zeigte ihm den verwitterten Band mit Erzählungen des jiddischen Autors J. L. Perez und enthüllte dabei die blau eintätowierten Zahlen auf ihrem Arm. Als er das Buch in die Hand nahm, holte sie tief Luft, als wollte sie nicht mehr atmen, bis er es zurückgegeben hatte. Er begriff, dass diese Geste für sie eine tiefe rituelle Bedeutung hatte. Als er das Buch aufschlug und eine Sprache vor sich sah, die er schon als Kind abgelehnt hatte, geschah etwas Seltsames. Die spitzen hebräischen Lettern stürzten in seinen Kopf wie aus einer Dose Reißzwecken und erfüllten sein Gehirn mit tausend Explosionen von Schmerz. Doch mit dem Schmerz kam auch ein gewisses Maß an Erleuchtung, denn einige der gedruckten Worte fügten sich zu sinnvollen Einheiten zusammen. »Un Bontsche hot alz geschwign«, las er. »Und Bontsche schwieg noch immer.« Ihm brummte der Kopf.
    Als er ihr das Buch zurückgab, stieg eine undeutliche

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