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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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und die Reste ihres rostbraunen Haars erinnerten an einen Salbeistrauch. Wären der fliederfarbene Rock, den sie trotz der Hitze trug, und die zarten Knospen ihrer Brüste nicht gewesen, hätte man sie auch für einen mageren Burschen halten können. Aber ihre smaragdgrünen Augen waren nicht nach innen gerichtet wie bei den anderen »Illegalen«, sondern weit offen und die Pupillen auf einen Ort fixiert, dessen Mitte, wie Ruby meinte, überall war. Zu den undeutlichen Empfindungen, die sie in ihm auslöste, gehörte auch der Wunsch herauszufinden, was genau sie da erblickte.
    Sie hieß Schprinze, was Ruby auf die gleiche Weise erfuhr wie auch alles andere über sie: Er spionierte ihr nach. Und sie blieb auch Schprinze, während es die anderen Mädchen mit Tamara, Tirzeh und Gabi versuchten in der Hoffnung, dass ein neuer Name die Schmach des alten löschen würde. Wie die anderen Neuankömmlinge erledigte sie bereitwillig die Aufgaben, die ihr die Kommune übertrug, und sah in ihrem schlampigen Rock und dem Kopftuch wie ein echter Bauerntrampel aus. Das Dumme war nur, dass sie die falsche Rolle spielte. Im Gegensatz zu den anderen verbrannte sie nicht ihre alten Kleider, um sich neue aus dem Gemeinschaftsvorrat zu nehmen: kurze Kakihose, olivfarbenes Hemd und Schnürstiefel, die die Uniform der zionistischen Siedler bildete. Sie war Melkerin, Wäscherin, Vogelnestausnehmerin; wie Krallen schwenkte sie die Gartenschere, um Sperlinge aus der Weinlaube zu verscheuchen; im Hain hinter dem Kinderhaus erntete sie Oliven, zerdrückte sie zwischen Mühlsteinen zu Brei und kurbelte mit den Bewegungen eines seilschwingenden Schulmädchens an der Zentrifuge, die das Öl vom Wasser trennte. Aber mit seinem geübten Auge glaubte Ruby zu erkennen, dass sie nur eine Rolle spielte, wenn sie Eimer schleppte oder eine Ladung Orangen in der Schürze trug. Während sich die anderen allmählich in das Leben der Kolonie einfügten, bewahrte Schprinze Distanz - ähnlich wie der Ba’al schaticha, der sich außerhalb der Stacheldrahtumfriedung der Siedlung eine Hütte gebaut hatte. Sie trug nichts zu den spontanen Bekenntnissitzungen im Speisesaal bei, bei denen die Überlebenden auf ihren Stühlen zusammenbrachen und sich von der Kommune trösten ließen. (Die Kibbuzniks waren inzwischen erfahren im Umgang mit Hysterie.) Und zumindest in Rubys Hörweite versuchte sie sich auch nie im Gebrauch der heiligen Sprache.
    Er konnte nur spekulieren, weshalb sie sich dafür entschied, Außenseiterin zu bleiben. Möglicherweise zog sie einfach die Gesellschaft ihrer Bücher vor. Denn wenn sie nicht ihre Rolle als Gänsehüterin oder Servierdame spielte, war sie in einen der wurmstichigen Bände vertieft, die das einzige Gepäck aus ihrer Vergangenheit bildeten. Dies war die Pose, in der Ruby sie am häufigsten beobachtete - hingebreitet auf der Wiese zwischen den Blumen mit dem Namen Makkabäerblut gleich außerhalb der Niederlassung -, wenn er seine Schafe zum Weiden führte.
    Als Schafhirt war er deutlich weniger begabt denn als Schlächter und Halsabschneider. Ihm ging es eigentlich nur um eine Aufgabe, die Einsamkeit mit sich brachte, und die Kunst der Tierhaltung an sich interessierte ihn nicht im Geringsten. Er war kaum in der Lage, ein Lamm von einem Mutterschaf zu unterscheiden, und der geile alte Bock mit der scheißeverschmierten Kruppe war für ihn nur ein schofar auf Hufen. Er war taub für Ratschläge zu den besten Weideplätzen und führte die Herde oft nicht an Stellen, wo es Gras oder Stoppeln gab, sondern auf ungeerntete Weizen- und Flachsfelder, die dann verwüstet waren. Er entwickelte ein gewisses Geschick im Gebrauch des Lassos, hatte aber nur selten Anlass, es zu verwenden, da der Kibbuz per Abstimmung entschieden hatte, dass die Brandmarkung des Viehs als Mittel der Identifizierung zu belastet war; zudem kümmerte er sich nicht um die Erneuerung der Salzlecken, die in den Wadis verstreut lagen wie Gartenskulpturen. Zu dem Hütehund Abimelech, der jedermann und niemandem gehörte, hatte Ruby nie eine Beziehung hergestellt. Die seltsame Mischung aus Border-Collie und Dackel verstand sich besser darauf, die Herde zu erschrecken, als sie in den Pferch zu treiben. Doch trotz seiner Nachlässigkeit hatte Ruby die Schafe lieb gewonnen. Dabei ging er nicht so weit, sie vor Raubtieren, Krankheiten oder den giftigen Gräsern zu schützen, die sie zu bepelzten Luftschiffen aufblähten. Er schützte sie nur vorm Schlachten und Scheren,

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