Der gefrorene Rabbi
Erinnerung in ihm hoch, die er nicht recht fassen konnte. Dann fiel es ihm ein: ein Partisan, der versuchte, die Eingeweide eines gefallenen Kameraden zurückzustopfen. Er kniff die Augen zu, bis das Bild vorübergezogen war, und als er sie wieder aufschlug, stand sie blühend und erwartungsvoll vor ihm; ihre spitze Nase zuckte von der Berührung eines Schmetterlings, als sie fragte: »Schtel mit mir a chupe?« Willst du mich heiraten?
Forschend schaute er sie an, doch er entdeckte keine Spur von Sarkasmus. Dann setzte tief in seinem Innersten ein Lachen ein, bahnte sich zuckend einen Weg durch die Brust und brach mit lautem Brüllen aus ihm hervor. Zusammengekrümmt ließ er einer Heiterkeit freien Lauf, die nicht weniger Kummer als Fröhlichkeit enthielt und ihn schüttelte, bis er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Die sengenden Tränen auf seinen Wangen vermischten sich mit dem Schweiß, als würde er nach den vielen Jahren der Dürre aus allen Poren weinen. Als der Anfall allmählich nachließ und er die Beherrschung wiederfand, stand sie unverändert da und hatte den Sturm stoisch über sich ergehen lassen. Den Kopf leicht geneigt, musterte sie ihn voller Neugier. War sie verrückt oder einfach nur dumm? Irgendwie schienen diese Kategorien nicht zu passen.
Er musste all seine unvollkommenen Fertigkeiten aufbieten, um ihr eine Antwort zu geben. »Nem mir in acht farknaßn.« Betrachte uns als verlobt.
Zuerst besuchte sie ihn nur in unregelmäßigen Abständen, meistens am frühen Abend, nachdem sie ihre Pflichten erledigt hatte und bevor die Speiseglocke läutete. Sie setzte sich neben ihn auf einen Felsvorsprung oder in einen Papyrushain, aus dem er seine kümmerliche Herde beim Äsen im Schlamm beobachtete, und las in einem ihrer Erzählbände. In Erwartung ihres Kommens fing Ruby an, sich herzurichten; er stutzte seinen Rauschebart und schrubbte sich in einem selbst gebauten Duschbad, obwohl er dafür eine halbe Stunde Wasser aus einem Tank hinauf in die Tonne pumpen musste. Dennoch lohnte sich diese Mühe für ihn, weil er hoffte, mit dieser Reinlichkeit (zusammen mit dem schweren Wollhemd und der Segeltuchhose) seinen inneren Aufruhr verbergen zu können. Allerdings nahm Schprinze seine Anstrengungen nicht zur Kenntnis und schien ihn anfangs gar nicht wiederzuerkennen, bis er ihr versicherte, dass er der mit ihr verlobte Einsiedler war. Sie machte sich für die Treffen mit ihm auch nicht besonders zurecht, trotzdem war Ruby ein wenig berauscht von dem Zibetduft, den sie verströmte.
Schon bald erfuhr er ihr verstörendes Geheimnis: Sie tat nur so, als würde sie die Bücher lesen, deren aufgeschlagene Seiten sie nie umblätterte. Er fragte, ob sie Analphabetin sei, bedauerte die Frage aber sogleich. Sie schüttelte nur den Kopf, ohne gekränkt zu sein. Und als er später wagte, ihr laut vorzulesen - immer noch erstaunt darüber, welch klare Formen die Worte annahmen -, sprang sie manchmal ein, wenn er ins Stocken geriet, oder zitierte die Sätze mit geschlossenen Augen aus dem Gedächtnis. Aber meistens begnügte sie sich damit, ihm still zuzuhören.
Ruby hatte den Eindruck, dass sich Schprinze von den Figuren in diesen Geschichten Identitäten ausborgte wie Kostüme aus einem Kleiderschrank, um den jeweiligen Tag zu überstehen. Aber gegen Abend hatten sich diese befristeten Identitäten abgenutzt und mussten aus ihrem Vorrat an Erzählungen wieder aufgefrischt werden. Wenn die Rolle, die sie angenommen hatte, abgelaufen war, kam sie zu ihm und war zu diesem Zeitpunkt fast wie ein wildes Geschöpf. Dabei war sie nicht etwa scheu oder verschreckt, sondern einfach ungebändigt und ratlos, bis sie von der Lektüre zivilisiert wurde. Dann konnte sie sich wieder dem Kollektiv stellen und dabei die Langmut einer Schejndele aus David Pinskis Die Frau des Holzfällers oder die Lebhhaftigkeit der Töchter Tevjes an den Tag legen. Ruby fühlte sich an die zahlreichen Identitäten erinnert, die er in seiner Zeit als Flüchtling angenommen hatte; aber seit seine Postamtfotos vergilbt und mit den Porträts einer neuen Generation jüdischer Desperados überklebt worden waren, hatte er jede Verkleidung aufgegeben. Jetzt hätte man ihn mit Ausnahme der bloßen Füße und seiner karierten kufiya für einen ganz normalen sonnenverbrannten chaluz halten können.
Der Sack des Mädchens enthielt einen Band mit Perez Hirschbeins Erzählungen und eine weitere Sammlung von Salomon Anski; des Weiteren fanden sich
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