Der gefrorene Rabbi
Hoffnung, sogleich wieder in das Element eintauchen zu können, aus dem die Schergen sie gerissen hatten. Aber die Worte lagen wie Fliegendreck auf den Seiten und weigerten sich, ihren Sinn preiszugeben, und sie glaubte, für immer ausgeschlossen zu sein.
Von einem Auffanglager ins nächste geschoben, landete sie schließlich auf Zypern. Dort wurde sie von einem Strom mitgerissen, der sie letztlich ans Ufer des Heiligen Landes spülte. Aber die Bibel war nie ihr Buch gewesen, und aus dem gleichen Grund waren die Juden aus diesem Epos - die Könige, Seher und Huren, deren Geister die wiedergeborene Landschaft heimsuchten - nicht ihr Volk. Nach dem Ende ihres Berichts überraschte sie Ruby abermals mit der Aufforderung: »Jetzt du.« Und als er zögerte, setzte sie hinzu: »Amol is gewen …«
»Es war einmal«, hob er schließlich an, weil er sich verpflichtet fühlte, sein eigenes dämonisches Zeugnis abzulegen, »ein junger Mann namens Ruben ben Niemand, der das gescheft seines Papas mitsamt seinem Papa niedergebrannt hat.« Aber die bloße Erwähnung dieses Faktums machte noch keine Geschichte daraus; und es würde auch nie eine Geschichte daraus entstehen. »Seit damals kennt er nur noch Mord.«
In Wirklichkeit ermordete er schon lange niemanden mehr, und der Zorn, den er für diese Aufgabe einst aufbieten konnte, war verraucht. Vielmehr war er ganz erfüllt von der Sorge um Schprinze, die namenlose Empfindungen in ihm weckte. Allerdings gingen diese mit körperlichen Symptomen einher - chronische Bauchschmerzen, galoppierender Herzschlag -, die vielleicht mit Angst zu tun hatten. Um sein eigenes Wohl hatte Ruby noch nie gebangt, doch er fürchtete um das zerbrechliche Mädchen, um ihre blasenbedeckten Finger, um den Puls, der die Zahlen auf ihrem Handgelenk bewegte, um das rostbraune Haar, das dem Daunenstadium entwachsen war und vom Wüstensamum zu einem Buschfeuer angefacht wurde.
Mittlerweile wurde zwischen den Bewohnern von Tel Elohim viel über Schprinze und ihre Verbindung zu dem falschen Schafhirten geklatscht. Da sie den Ba’al schaticha mit Misstrauen beäugten, spekulierten sie über seinen schädlichen Einfluss auf das Mädchen, das selbst immer distanzierter wurde. Voller Missbilligung beobachteten sie, wie das ungleiche Paar in der Gesellschaft eines zweifelhaften Köters und einer völlig verwahrlosten Schafherde über Büchern brütete. Aber niemand wagte es, sich einzumischen, wenn sie im struppigen Gras lagen oder unter der Plane eines Lastwagens saßen, um den Sonnenuntergang zu betrachten, der für Ruby wie eine Blutung unter einem Gazeverband und für Schprinze wie ein Betttuch nach der Hochzeitsnacht aussah. Dann nahm das Mädchen wieder ihre Nebenrolle unter den Siedlern auf, und der Hirte trieb seine Herde in den Pferch. Er zog sich in seine völlig von Ranunkeln überwucherte Wellblechhütte auf dem Kreidekamm über der Siedlung zurück und bereitete sein karges Abendessen zu.
Er hatte schon lange nicht mehr mit der Gemeinschaft gespeist, allerdings hatten eine Zeit lang Frauen, die in seine Legende verliebt waren, zugedeckte Gerichte an seiner Tür hinterlassen: saftiges Rind mit Eiernudeln, Pitabrot und Sesampaste, gedünstete Pflaumen. Aber nach seinem Rückzug aus dem Leben der Kommune und den plugazim, den Terrorkommandos, blieben diese Gaben aus, und Ruby ernährte sich von allem, was ihm unterkam. Das konnte eine rohe Kartoffel sein, eine Handvoll unreifer Johannisbrotschoten oder zerquetschte, mit blauem Schimmel bedeckte Orangen. Es war die Kost eines Büßers, die er mehr aus Gewohnheit aß als aus echtem Appetit. Trotz dieser kärglichen Verpflegung war er noch immer gesund, so sein Eindruck, und seine Muskeln blieben straff. Doch sein Körper war auf beunruhigende Weise abgemagert. Er hatte keinen Spiegel (rasierte sich, wenn überhaupt, tastend wie ein Blinder), aber in seinen eingesunkenen Wangen konnte er die Furchen ständiger Sorge nachzeichnen. Er spürte die Jahre und den Tribut, den seine wieder erwachte Sensibilität forderte, und er sehnte sich danach, seine Gefühle für Schprinze in Worte zu kleiden, obwohl er Angst hatte, dass sie ihr genauso zusetzen könnten wie ihm.
Aus diesem Grund hatte er sie auch noch nie berührt. Er fürchtete, dass ihre großenteils imaginäre Welt diesem plumpen Ansturm nicht standhalten würde. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, war schwer zu erkennen, wo für sie die Schwelle zur Befleckung überschritten wurde; wenn er
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