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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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darin Medresch izik von Itzik Manger, zu denen auch seine Geschichten über Herschel Ostropolier gehörten, die Denkwürdigkeiten von Glückel von Hameln sowie die Fabeln und Stücke von J. L. Perez. Es war eine bittersüße Literatur, bevölkert mit Sorgenwälzern statt mit Helden, die in Rubys Bewusstsein alles andere verdrängte wie etwa die Nachrichten von der machiavellistischen Politik des britischen Außenministers Bevin, von der Ermordung Lord Moynes und von dem Sprengstoffattentat auf das King David Hotel.
    Aber was war mit Schprinzes eigener Geschichte? War ihre Erinnerung daran abgenutzt wie die Worte in den Büchern, sodass ihr Gehirn keinen Halt daran fand? Das war Rubys Theorie, doch hin und wieder versuchte er, ihr ein Detail ihrer Vergangenheit zu entlocken, auch wenn er schon seit Jahren keine Übung mehr im Schmeicheln hatte. »Amol is gewen«, begann er und warf die Scherbe eines alten Ehrenmals nach Abimelech, der ein nesselkauendes Schaf belästigte. »Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Schprinzele …« Mit einer Geste deutete er an, dass sie die Geschichte fortsetzen sollte. Und wenn sie den Köder nicht schluckte, wartete er ein oder zwei Tage und versuchte es erneut. Es war ein wenig ermüdend, so wie das Anlassen des alten Flying-Merkel-Motorrads der Kommune, gestand er ihr und erntete dafür ein Zucken des Mundwinkels, das er als Vorläufer eines Lächelns wertete; ja, er hatte ihr ein Lächeln abgerungen. Dennoch war er völlig unvorbereitet, als das Mädchen den Erzählfaden schließlich aufnahm.
    »Mein Papa hieß Reb Eliakum Fejgenboim, und war er ein mojcher-ßforim, ein Buchhändler; an meine Mama kann ich mich nicht erinnern, ist sie jung gestorben. Haben wir gewohnt in der Zwarda Gass in Wilna in drei engen Zimmern über dem Laden, woß er war voll von Büchern oben und unten. Als gescheft war der Laden nit-gornischt, weil mein Papa, hätte er Leichentücher verkauft, wäre niemand gestorben. Hot er gegeben die besten Stücke seinen Lieblingskunden und den anderen, woß er hat gehalten für unwürdig, abgeraten, dass sie kaufen den Rest. Bloß wenn er ist gezogen über die Dörfer mit dem Karren, hot er verdient ein paar groschnß von den litwakeß. Als Mädchen durfte ich nicht besuchen den chejder, hob ich also nie gelesen die tojre, aber konnte ich lesen in der zena u-rena und dem majße-bichl, und hob ich aufgeschleckt wie die schnekn alles im Laden von Schaikewitsch bis Aksenfeld …«
    Ruby begriff, dass sie als Heldin einer Geschichte sprach, als »Schprinze, die Tochter des Buchhändlers«, die in der Bibliothek ihres Vaters lebte und jedes Mädchen in jeder Erzählung war, die sie je gelesen hatte.
    »Dann kamen in einer schlimmen Stunde die schretlech, die Teufel in ihren Helmen und den Stiefeln, sollen sie pischn grüne Würmer, und haben mich weggebracht von meinen Büchern in die sitra achra, die Unterwelt, wo nicht einmal Gott setzt seinen Fuß. Dort sie hobn ihr Zeichen auf mich gesetzt, dass ich gehöre ihnen für immer …«
    Vor ihrer Verschleppung jedoch hatte Schprinze einen Kissenüberzug mit ihren Lieblingsbüchern in einem Hohlraum unter den Bodendielen des Ladens versteckt. Ihr Vater, der nicht ihre Geistesgegenwart besaß, suchte noch immer Bücher für die Reise aus, als die Deutschen eindrangen, und weil er sich zu lange mit dem Auswählen aufhielt, schlugen sie ihm mit dem Gewehrkolben den seidenbedeckten Schädel ein. Trotz ihres gebrochenen Herzens war Schprinze schlau genug, den Ladenschlüssel zu verschlucken, bevor sie weggebracht wurde, und in dem stinkenden Güterwaggon, der sie ins Vernichtungslager transportierte, grub sie den Schlüssel aus ihren Exkrementen. Nach der Befreiung kehrte sie nach Wilna zurück, und die Verwüstung der Stadt legte Zeugnis davon ab, dass die Unterwelt nun überall die Herrschaft erlangt hatte. Spätabends lief sie zum Laden und benutzte den Schlüssel, der wundersamerweise noch immer passte, und schlich sich hinein. Aller Bücher beraubt, gehörte das Geschäft jetzt einem Apotheker, und in den Regalen standen Tränke, die womöglich den Teufeln jene säbelartigen Erektionen verliehen, mit denen sie wehrlose Mädchen aufspießten. Hastig stemmte sie die Dielen auf und fürchtete, auf Leere oder auf die Gebeine ihres Vaters zu stoßen. Doch ihre Bücher waren noch da. Mit dem Kissenbezug eilte sie hinaus auf die Straße und blieb unter der ersten Laterne stehen, um irgendeinen Band aufzuschlagen, in der

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