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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Abimelech. Sie lief zwischen den Lämmern und Schafen herum und umgab sie mit einem unsichtbaren Gatter. Allerdings hätte die schneeweiße arabische Herde die verwahrloste jüdische Schar sowieso gemieden. Ruby kam nie auf die Idee, irgendwelche gleichnishaften Schlüsse aus dieser Situation zu ziehen, genauso wenig, wie es ihm einfiel, über die Herkunft des Jungen zu spekulieren: Iqbal war ein Bewohner der Wildnis und hatte die Freundschaft des jüdischen Brandstifters gesucht wie ein Schakal, der sich einem Lagerfeuer nähert, um sich zu wärmen. Denn der Junge war wie ein ungezähmtes Tier oder mehrere Tiere, ein Imitator, der spontan das Verhalten jedes Geschöpfs nachempfand, das in sein Blickfeld geriet. Wenn zum Beispiel eine Trappe vorüberflog, erhob sich der Junge auf ein Bein, flatterte mit den Armen und kreischte hysterisch; er bellte die scheckigen Wildkatzen und Hyänen an, die ihm mit klagendem Jaulen antworteten. Er streifte den Burnus zurück, um den kuhfladenartigen Schopf aus mit Butter verklebten Schmachtlocken zu enthüllen, oder hob die Dschellaba, um aus seinem hängenden Schurz ein reiches Inventar von Werkzeugen und Gerätschaften zu zaubern, das er zum Kauf anbot. Zum Schutz gegen die ärgste Tageshitze baute er mit seinem Hirtenstab als einziger Stange und einem Haartuch ein Zelt, in dessen Schatten er den Juden einlud.
    Neben einem Trinkschlauch und verschiedenen Gewürzen enthielt sein Sack auch Dinge, die nicht für den täglichen Gebrauch geeignet waren, wie etwa Krähenflügel, zermahlene Stachelschweinspieße und zerdrückte Skorpione, die nach Rubys Vermutung wohl für Zauberrituale verwendet wurden. Irgendwann am Nachmittag oder Abend sammelte der Junge seine Habseligkeiten auf und nahm den grob geschnitzten Stab zur Hand. Ruby hob sein Gewehr, und die beiden gingen umstandslos getrennte Wege. Oft dauerte es Wochen oder gar Monate bis zum nächsten Wiedersehen, und dann setzten sie ihre Zufallsbekanntschaft fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Doch die Zeit verstrich, und obwohl der Hirte ansonsten unverändert blieb, bemerkte Ruby den spärlichen Flaum auf seinen lohfarbenen Wangen und ein gerissenes Funkeln in seinen Augen. Außerdem zeigten einige seiner Schafe die verdächtige Neigung, mit dreister Schamlosigkeit das Hinterteil an ihm zu reiben.
    Der Mischlingsköter Abimelech, der Schatten anbellte und Echos jagte, gab nie Laut, wenn sich der Hirte näherte. (Er war vernarrt in Dalilah und umwarb sie mit akrobatischen Verrenkungen, die tollwütigen Krämpfen glichen, aber sie wies seine Annäherungsversuche zurück und strafte seine lüsternen Bocksprünge mit Verachtung.) Iqbal hingegen kündigte seine Ankunft stets mit den üblichen Beschimpfungen an, die Ruby zum größten Teil nicht verstand. Aber Ruby war das Geplapper des Hirten ohnehin gleichgültig; er begnügte sich damit, sich neben ihm niederzulassen, wenn der Bursche aus seinem unergründlichen Sack eine Kohlepfanne zum Braten von Schaschlikbrocken zutage förderte. Dann nagten sie gemeinsam an dem ledrigen Fleisch, das Gesicht fettverschmiert, und danach saugte der nicht entwöhnte Iqbal an der Zitze seiner einzigen Ziege, bis sie torkelte.
    Eines Tages saßen sie zwischen Salzbüschen in einem versandeten Bachbett, und die Schafe ruhten im Schatten der flachen Schlucht. Plötzlich verdunkelte sich die Sonne, und ein Sturm zog herauf. Selbst Iqbal, der sonst jede Laune des Wetters vorhersah, wurde von dem heftigen Wolkenbruch überrascht. Bevor sich die Schafe bewegen oder die Hirten aus ihrem Haschischdämmer auffahren konnten, hatte sich die Klamm mit einer Flut gefüllt, als wäre ein Damm geborsten. Gegen die starke Strömung ankämpfend, versuchten Ruby und Iqbal, ihre Tiere nach oben zu scheuchen. Die meisten fanden irgendwo in den Felsen des Hohlwegs Halt und konnten sich vor den steigenden Wogen in Sicherheit bringen, doch einige wurden von der Wasserwand erfasst und fortgespült. Dann wurde auch Ruby von einem Strudel umgerissen, und obwohl er sich nicht in Gefahr glaubte, stürzte sich der Schafhirte in die tosenden Kaskaden, um ihn zu retten. Zu seinem Leidwesen sah sich Ruby am Bart und unter den Achseln gepackt und über das steile Ufer hinaufgeschleppt. Doch auch dann löste der Junge die Umarmung nicht (in die sich nun ein Element von Zärtlichkeit mischte), bis Ruby ihn grob wegstieß und sich gerade noch rechtzeitig aufsetzte, um mitzuerleben, wie der inkontinente alte Bock seiner

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