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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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also das Verlangen spürte, beispielsweise die Sehne an ihrem daunenzarten Nacken zu streicheln, hütete er sich, eine derartige Intimität zu wagen. Es war besser, unter unerfüllten Wünschen zu leiden und einen Schmerz auf sich zu nehmen, den er ohnehin verdient hatte. Was er jedoch nicht verdient hatte, war, dass der Schmerz zwar fast unerträglich, aber zugleich unglaublich süß war. Dann, als sie eines Abends im Monat elul lesend am Rand eines Brunnens saßen, aus dessen steinerner Tiefe kalte Luft emporstieg wie aus einer Eishöhle, legte er Schprinze unversehens die Hand aufs Haar. Er selbst nahm die Geste nur in einem verborgenen Winkel seines Bewusstseins wahr und stellte sich vor, dass sie vielleicht ihren Jungenkopf neigen und sich die Andeutung eines Lächelns gestatten könnte - mehr nicht. Stattdessen blickte sie ihn mit klaffendem Mund an, dessen unterdrückter Schrei schriller war als jeder Laut, den sie hätte von sich geben können, sprang katzengewandt auf und rannte den Hügel hinab, bis sie das Sturmtor von Tel Elohim passiert hatte.
    Doch noch in derselben Nacht, als er sich auf seinem Feldbett wälzte und sich Vorwürfe wegen seines Fehlers machte, öffnete sich die Tür, und im Licht der Sterne zeichneten sich unter einem dünnen Musselinhemd ihre gertenschlanken Umrisse ab. »Ermorde mich, mein Böser«, gurrte sie mit perfekt gespielter Scheu - und einige Monate später verriet die Rundung ihres Bauchs, dass sie ein Kind erwartete.
     
    Ruby hatte eine Art Freund, einen jungen arabischen Hirten, den er schon vor Jahren kennengelernt hatte, als er seine Herde zum Weiden in die ausgetrockneten Bodenaushöhlungen westlich der Siedlung geführt hatte. Der Bursche war zaundürr und hatte einen Haarschopf wie ein Vogelnest. Er verwechselte den Krieger wohl mit einem Schafhüter und versuchte, ihn mittels Geschnatter und Gesten zu grüneren Wiesen zu dirigieren. Aber Ruby blieb lieber im Ödland, um über seine Sünden nachzusinnen. Der Junge zuckte nur mit den knotigen Schultern und trieb seine Herde hinauf auf grasige Höhen. Doch in den nächsten Tagen tauchte er in unregelmäßigen Abständen wieder auf, und Ruby hatte den Verdacht, dass diese Begegnungen nicht immer zufällig zustande kamen. Mit einem breiten Grinsen, das stolz seine abgebrochenen Zähne zeigte, und einem geflochtenen Band, das anzüglich aus dem Lendenschurz hing, empfing er seinen Kollegen mit einem fröhlichen »Itbach al jahud«. Tod den Juden. Die Worte wurden mit so viel Herzlichkeit ausgesprochen, dass Ruby, der den Spruch oft in anderen Zusammenhängen gehört hatte, nur mit einem leicht verwirrten »Alejchem-scholem« antworten konnte. Dies wurde zu ihrer üblichen Begrüßung, wenn sich ihre Pfade kreuzten.
    Ruby nahm zunächst an, dass der Junge aus dem Schlammhüttendorf Kafr Qusra stammte, das von den Hängen Tel Elohims aus zu sehen war, aber bald wurde ihm klar, dass der Hirte keinem Ort auf Erden verbunden war. Seinen Namen, Iqbal bin Fat Fat, konnte Ruby im Verlauf mehrerer Besuche herausfinden, doch obwohl der Junge ununterbrochen plapperte, blieb dies die einzige verlässliche Angabe zu seiner Identität. Unangemeldet tauchte er auf und nahm die fehlende Gastfreundschaft des Juden hin wie eine Selbstverständlichkeit. Obwohl er offenbar ein wenig geistesverwirrt war - er selbst nannte sich einen mejdoub, einen geborenen Narren -, freute sich Ruby allmählich auf die Zusammenkünfte mit ihm.
    Ihre erste Begegnung fiel in die Zeit nach dem Ausbruch des Ba’al schaticha aus dem Gefängnis, als er nach monatelanger Flucht in den Kibbuz zurückgekehrt war. Um nicht aufzufallen, beteiligte er sich nicht an den Nachtpatrouillen und hielt sich meist auch von den Siedlern fern, die ihrerseits nicht unbedingt glücklich waren, ihn wieder aufnehmen zu müssen, vor allem nach dem Ableben seiner Onkel seligen Angedenkens. So war Ruby selbst überrascht, dass er die unangekündigten Besuche des spillerigen Sonderlings begrüßte; und es spielte auch keine Rolle, dass die Kommunikation zwischen ihnen so beschränkt war, da der Araber anscheinend von seinem Publikum kein Verständnis erwartete und der Jude die Gewohnheit der Konversation ohnehin längst abgelegt hatte.
    Stundenlang saßen sie zusammen. Ruby nickte zum Auf und Ab von Iqbals Geplapper und rauchte manchmal sogar eine Wasserpfeife mit ihm. Ihre Herden vermengten sich nie - dafür sorgte Iqbals Hündin Dalilah, die einer edleren Rasse angehörte als

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