Der gefrorene Rabbi
einnehmende Schönheit, die aus sich selbst heraus gewachsen schien und die sich ihre ausgemergelten Eltern gewiss nicht als Verdienst anrechnen konnten. Auch sie konnten sich die prachtvoll glitzernden schwarzen Locken, die Haut, die so weiß war wie die geklärte Sahne aus ihrem Gefrierkübel, und die grün funkelnden Samtaugen nicht erklären. Manchmal verriet der von der Tageshitze verursachte Schweiß trotz ihrer züchtigen Kleidung die Konturen ihrer gertenschlanken Gestalt, und die taubengleichen Brüste unter ihrem groben Leinenmieder sahen aus, als würden sie sich nach Freiheit sehnen. Während sich die junge Frau in ihrem Fleiß kaum ihrer verlockenden Reize bewusst war, war dies bei den Gettoburschen keineswegs der Fall, die ihr die gefrorenen Milchspeisen und Sorbets nur so aus den Händen rissen. Die Mutigeren unter ihnen schäkerten mit ihr und luden sie zu einem Spaziergang am Fluss oder ins Café ein, doch nach dem Vorbild ihrer Mutter, wenngleich in maßvollerem Ton, forderte sie sie auf, nicht ihre Zeit zu verschwenden, schließlich warteten noch weitere Kunden. Zwei besonders hartnäckige Kerle wagten es sogar, sich als echte Freier vorzustellen mit der Versicherung, dass sie keine Mitgift erwarteten, und versprachen ihr eine angenehme Zukunft. Doch obwohl ihr ein Ehemann und Kinder unvermeidlich schienen, kam sie fürs Erste sehr gut ohne sie aus, und so mahnte sie ihre Verehrer nur lachend, ihr nicht auf die Nerven zu fallen.
Die meisten steckten ihren Tadel so gutmütig ein, wie er ausgesprochen wurde, doch einige besonders feurige Bewunderer nahmen es ihr übel. Bascha Pua, der nur wenig entging, bemerkte die wachsende Bitterkeit dieser jungen Männer und warnte ihre Tochter, dass ein Aussehen wie ihres schnell vom Segen zu einem Fluch werden konnte. Doch Jochebed schenkte den Worten ihrer Mutter keine Aufmerksamkeit, so sehr war sie gefangen von einer Unternehmung, mit der sie ihre Familie aus ihrem langjährigen Elend zu erlösen gedachte.
Insgesamt blieb die Stimmung im Getto nach der gescheiterten Revolution angespannt. Täglich wurden Juden wegen Kollaboration und Verrats angeklagt und in wachsender Zahl in Salzbergwerke und Arbeitslager gesteckt; andere flohen nach Amerika, dem Goldenen Land, von dem Geschichten über grenzenlose Möglichkeiten und unerhörten Reichtum erzählt wurden. Aber Jochebed ging glücklich ihrem florierenden Geschäft nach und achtete nicht weiter auf die Endzeitströmungen, die ihre Brüder fortgerissen hatten. Im Gegenteil, sie nahm zwei Mädchen aus der Nachbarschaft in Dienst, die ihr halfen, die Produkte herzustellen und sie in einem weiteren Umkreis feilzubieten. In seltenen Augenblicken hing sie sogar dem Traum nach, ihren Heimbetrieb zu einem Imperium auszubauen. Allerdings war sie selbst ein wenig beunruhigt über das Ausmaß ihres Ehrgeizes.
Dann löste sich die Verheißung von Wohlstand wie eine Fata Morgana wieder in Luft auf. Strafaktionen und Entlassungen nach weiteren Streiks im Textilgewerbe sowie die Entfernung sogenannter unerwünschter Individuen führten dazu, dass viele Familien arbeitslos wurden. Die Juden gaben ihr Erspartes aus und verpfändeten Wertgegenstände, um an eine schifkarte nach Amerika heranzukommen, und eine schleichende Abwanderung aus dem Getto setzte ein. Wer wollte sich angesichts solcher Umstände auch nur den kleinen Luxus eines Zuckerpflaumensorbets leisten? Inzwischen kündigten die ersten beißenden Böen den Winter an und taten ein Übriges, um Jochebeds schwungvolles Geschäft zu untergraben. Mit Ausnahme ihrer Verehrer (denen sie vielleicht doch nicht so voreilig einen Korb hätte geben sollen?) fand die junge Frau kaum noch Kunden in der Franciszkanskastraße, und nachdem sie die Helferinnen heimgeschickt hatte, die sie nicht mehr bezahlen konnte, machte sich Jochebed selbst auf den Weg, um ihre Ware in anderen Vierteln anzubieten.
Eines Tages zog die in Tücher gehüllte Eisverkäuferin unter einem frühabendlichen Himmel, aus dem die ersten tapiokadicken Schneeflocken rieselten, ihren klappernden Handkarren durch einen Teil des Gettos, den sie sonst mied. Nachdem sie den ganzen Tag durch vornehmere Viertel gestreift war, aus denen sie praktisch mit leeren Händen zurückkam, war sie müde und wollte eine Abkürzung nach Hause nehmen. Doch die fremden, verwinkelten Straßen und Sackgassen verwirrten sie, und als sie unter eine Arkade trat, um einem gestürzten Zugpferd auszuweichen, dessen Verwesungsgeruch
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