Der gefrorene Rabbi
Geburt leer.
In den ersten Tagen seines Aufenthalts in dieser Welt verharrte der gebrauchte Heilige in einem halb katatonischen Zustand, benommen und mürrisch nach seinem plötzlichen Erwachen. Doch seine allmähliche Erholung trieb den Jungen zu einer Aktivität an, die er noch nie bei sich erlebt hatte. Zuerst brachte er dem Rabbi Essensreste, die zwischen Netties Kündigung und der Einstellung eines neuen Mädchens für alles eher mager ausfielen. Später schmuggelte Bernie heimlich einen Teil seiner eigenen Mahlzeiten in Servietten nach draußen und konnte dem Alten so eine gehaltvollere Kost bieten: Spareribs, ein paar gekochte Krabben in Cocktailsoße, ein angenagtes Omelett mit Schinken und Käse, Kekse mit viel Butter und tierischen Fetten. Nach über einem Jahrhundert des Fastens war der Rabbi schwach und konnte zunächst nur im Essen herumstochern, doch schon bald stellte sich ein gesunder Appetit ein, und er verputzte alles, was ihm der Junge vorsetzte.
Bernie, dessen religiöse Bildung sich auf einige wenige Bibelverse aus seiner vergessenen Sonntagsschulzeit beschränkte, ahnte dennoch, dass diese Speisen möglicherweise gegen einen uralten Ernährungskodex verstießen. In dem Wunsch, mehr über eine angemessene Versorgung und Verpflegung des Rabbis zu erfahren, unternahm er eine noch nie da gewesene Exkursion in die Bibliothek der Vorstadtsynagoge, die seine Familie an hohen Feiertagen aufsuchte. Dort schlug er in einem illustrierten Band mit dem Titel Jüdisches Leben nach. Als er die Seiten überflog, wurde dem Jungen klar, dass er den Alten mit Dreck gefüttert hatte. Obwohl sein Wortschatz selbst in seiner Muttersprache nicht besonders groß war - Konversation zählte nicht unbedingt zu seinen Stärken -, unternahm Bernie einen Versuch, sich in der drolligen Ausdrucksweise, von der er inzwischen ein paar Brocken aufgeschnappt hatte, bei dem Rabbi zu entschuldigen.
»Ich bin nebechdik, rebbe.« So viel Demut war völlig ungewohnt für ihn, doch er ging noch weiter: »Hob rachmoneß?«
»Bin ich dir mojchl.« Der Rabbi machte eine wegwerfende Handbewegung. Versunken in einen Lehnstuhl begutachtete er die Biesen an Mr. Karps Baumwollbademantel. »A dajge hob ich.« Und da er selbst schnell gelernt hatte, fügte er hinzu: »Keine Sorge.«
Danach bemühte sich Bernie emsig, bei den Gerichten, die er dem Alten heimlich hinausschmuggelte, Fleisch von Milchprodukten zu trennen. Unter den argwöhnischen Blicken der ehrenamtlichen Helferin in der Synagoge, der Bibliotheksbenutzer jeglichen und gar jugendlichen Alters völlig neu waren, lieh Bernie mehrere koschere Kochbücher aus. Obwohl er nie etwas Ehrgeizigeres versucht hatte als Toast, erklärte er sich bereit, es mit gegrilltem Euter, gefüllter Milz, Kutteln, Leber, Lunge und pupiklech zu probieren. Der genesende Rabbi ließ die guten Absichten des Jungen mit minimaler Ungeduld über sich ergehen, fragte allerdings, ob sich nicht bald die Gelegenheit ergeben würde, wieder die »Insekten aus dem Meer« zu kosten.
Für Bernie Karp war das eine große Zeit. Nichts in seiner von Lustlosigkeit geprägten Lebensgeschichte hatte ihn auf ein derartiges Ereignis vorbereitet, und er hatte sogar das Gefühl, dass vor der Wiederauferstehung des Rabbis überhaupt nichts Nennenswertes in seinem Leben passiert war. Es war, als hätte er nur seine Zeit abgesessen und fünfzehn Jahre lang darauf gewartet, dass der rebbe aus dem Ruhestand erwachte. Der Alte lag im Bett und erholte sich allmählich, oder er hockte zusammengesunken auf dem Stuhl beim Fenster, und das einfallende Sonnenlicht ließ seine Knochen so durchsichtig erscheinen wie das Eis, aus dem er sich befreit hatte. Immer wieder unternahm Bernie Anstrengungen, ihn zu einer Unterhaltung zu bewegen. Manchmal war der sonst so wortkarge, wenn nicht gar mürrische Junge selbst verblüfft über dieses uncharakteristische Benehmen, doch seine frisch erworbene Neugier hatte eine Eigendynamik entwickelt, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Anfangs war es ein zähes Ringen, da sie nicht die gleiche Sprache sprachen. Zudem konnte der Alte, der fortwährend verärgert über sein unsanftes Erwachen schien, launisch sein und war nicht immer bereit, auf Bernies Annäherungsversuche einzugehen. Doch letztlich duldete er die ungelenken Gebärden und plumpen Hinweise des Jungen, und mit ein wenig Überredung reagierte er entsprechend darauf, bis sie zu einem Austausch fanden, der als Kommunikation gelten
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