Der gefrorene Rabbi
ihren herkulischen Mühen erzählten. Es handelte sich um offizielle, von Schreibern aufgesetzte Episteln, die auch dem Blick dieser Schreiber standhalten mussten (»Unseren geschätzten und rechtschaffenen Eltern ein langes Leben!«), schablonenhaft propagandistische Berichte über die Trockenlegung von Sümpfen und Bewässerung von Wüsten, in denen nun Dattelpalmen und Tamarinden blühten, von siegreichen Schlachten gegen Moskitos und Beduinenstämme. Während seine Frau diese Chroniken als Lügenmärchen abtat, begeisterte sich Salo für sie, als hätten seine furchtlosen Söhne Einzug in das Buch der Legenden gehalten. Doch die ohnehin nur unregelmäßig eintreffenden Briefe blieben zuletzt ganz aus, und Bascha Pua zeterte mit noch nie da gewesener Raserei und vor Tränen brennenden Augen, zu denen sie sich niemals bekannt hätte, gegen ihren Mann, weil er ihre Söhne in die Fremde hatte ziehen lassen.
Inzwischen war auch Jochebed herangewachsen und erinnerte ihre Mutter mit ihrer unübersehbaren Präsenz ständig an die Abwesenheit der Zwillinge. Dennoch hielt sich Bascha Pua mit ihrem Tadel gegen das Mädchen einigermaßen zurück. Schließlich war sie eine gehorsame Tochter und eine Hilfe auf dem Markt und bot mit ihrer anmutigen Gestalt und ihrem natürlichen Charme einen steten Anreiz für die Kundschaft. Doch obwohl sie tagsüber an der Seite ihrer Mutter mit den Hausfrauen feilschte und Teig für kreplech rollte, war Jochebed der Liebling ihres Papas. Sie war es, die ihm am Abend seine mit einem Tuch zugedeckten, lauwarmen pupiklech ins Eishaus brachte und in der arktischen Kälte auf einer Melonenkiste neben ihm saß, während er aß. Obwohl sie schon zu alt dafür war, unterhielt er sie immer noch mit den Geschichten, die er ihr als Kind erzählt hatte: lächerliche Sagen über seine Schlachten mit Eispiraten, die Pisgats Lager ausrauben wollten (in dem bei Nacht - Jahwe sei Dank! - Totenstille herrschte), über seine lebensgefährlichen Abenteuer auf dem langen und mühsamen Weg von Boibicz nach Lodz. Oft übten die Geschichten eine narkotisierende Wirkung auf den Sprecher aus, der manchmal sogar einnickte, und Jochebed fand es amüsant, dass diese Märchen ihren schwerlidrigen Papa einschläferten, als hätte er sich selbst Wiegenlieder vorgesungen. Als Jochebed im Beisein ihres schlummernden Vaters zum ersten Mal den Sargdeckel anhob, war die Aura des Irrealen in der schwach beleuchteten Kälte so stark, dass ihr der gefrorene rebbe nicht echter erschien als Salos verstiegene Geschichten.
»Unsere Familie, wurde sie auserwählt«, hatte er ihr einmal feierlich mitgeteilt. Damit meinte er, dass sie die auserkorenen Bewahrer eines heiligen Erbes waren, das er ihr zu gegebener Zeit enthüllen wollte. (Die Zeit war kurz nach dem Abschied der Zwillinge gegeben, doch da hatte Jochebed die Offenbarung schon längst vorweggenommen.) »Wofür auserwählt?«, hatte das Mädchen erwidert und ihrem Vater Krümel aus dem Bart gestreift. Lebte ihre Familie nicht in unsäglicher Not, heraufbeschworen durch allgemeine Ungerechtigkeiten, auf die ihre entflohenen Brüder sie so deutlich aufmerksam gemacht hatten?
Doch obwohl sie sich zu den Anschauungen der Zwillinge bekannte, konnte sie nie ihren Zorn aufbieten, denn wie ihr Vater hatte sie eine liebenswürdige und wie ihre Mutter eine praktische Veranlagung. Was Jochebed an Pisgats Etablissement mit den aus gefrorenen Katarakten glotzenden Köpfen von Heringen und Karpfen am meisten fesselte, war das Eis selbst. Schon bei den ersten Besuchen keimte in ihr die Idee, dass man mit Eis mehr anfangen konnte, als Getränke zu kühlen und die Leichen von Tieren und alten Männern zu konservieren. Schließlich ließ sie sich von einer versponnenen Anekdote ihres Vaters inspirieren, in der es darum ging, dass die Jünger des rebbe »Heilzapfen« von dem durchscheinenden Block gebrochen hatten. So brachte sie eines Tages einen verschlossenen Blechzylinder ins Lager mit, den sie einem Lumpensammler abgekauft hatte. Während ihr Vater schlief, raspelte sie Späne von den aufgestapelten Eisplatten und verstaute sie in dem Gefäß, das sie zwischen den großen Korbflaschen mit gekühltem Schnaps versteckte. Am nächsten Morgen schlüpfte sie im Schutz des hektischen Treibens beim Beladen und Abfahren der Karren ins Eishaus, um die Blechbüchse zu holen. Auf ihre Bitte hin kritzelte ein Schreiber mit Holzkohle GEFROJRNSS auf ein Stück Stoff, und sie hängte den Wimpel an einer
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