Der gefrorene Rabbi
Angestellte meldete: »Er is weg.«
»Wer ist weg?«
»Der Mann im Eiskasten.«
Mrs. Karp hob eine zurechtgezupfte Braue, ließ sie herabsinken und machte es sich wieder auf ihrer Chaiselongue bequem, um weiterzulesen. »Nicht schade drum.«
Aber Nettie war untröstlich. Nachdem sie offenkundig all ihre Kräfte hatte aufbieten müssen, um den Alten in der Tiefkühltruhe jahrelang zu ertragen, konnte sie sich einfach nicht damit abfinden, dass er frei herumlief und womöglich gefährlich war. Sie knurrte, dass es sich unter diesen Umständen nicht mehr lohnte, die Stelle zu behalten, und stapfte die Treppe hinunter, um das Spukhaus der Karps für immer zu verlassen.
An diesem Abend servierte Mrs. Karp ihrer Familie ein Dosengericht aus Apfelsoße und Pork and Beans, das sie mühsam selbst zubereitet hatte.
»Was ist das?«, fragte ihr Mann.
»Man nennt es Abendessen«, erwiderte Mrs. Karp.
»Vielleicht in einem Boot Camp.« Mr. Karp freute sich über die eigene Schlagfertigkeit. »Aber in Canary Cove« - so hieß ihre waldige Wohnenklave - »nennt man das anders.«
Als sie sicher sein konnte, die Geduld ihres Mannes ausreichend strapaziert zu haben, betastete Mrs. Karp ihre kunstvoll gefärbte Mähne und erklärte, dass Nettie gekündigt hatte.
»Das ist doch unmöglich.« Immerhin hatte Nettie seit fast einem Jahrzehnt zur Familie gehört.
Mit ihrem unverwechselbaren Achselzucken deutete Mrs. Karp an, dass das Unmögliche eingetreten war. Dann ließ sie fallen, dass sich die Angestellte über das Verschwinden des alten Mannes aufgeregt hatte.
»Was sagst du da?«, rief Mr. Karp ungläubig. Seine Frau erkundigte sich träge, ob er taub war, und wiederholte die Mitteilung, deren Inhalt er sogleich infrage stellte: »Glaubst du, der kann einfach aufstehen und weglaufen?«
Mrs. Karp zuckte die Achseln. Warum nicht?
Zum zweiten Mal in diesem Monat sah sich Mr. Karp veranlasst, sein Abendessen mit einem mürrischen Räuspern zu unterbrechen. Er stand auf, entfernte die Serviette aus dem Kragen und stieg die Treppe zum Hobbyraum hinunter. Nach wenigen Augenblicken kehrte er zurück und verkündete: »Das ist ein schwerer Schlag.« Allerdings klang er dabei nicht besonders überzeugend. Er setzte sich wieder hin und stieß ein tiefes Seufzen aus, das (neben seiner Verwunderung) tief empfundene Erleichterung auszudrücken schien. Wenn das Erbstück tatsächlich verschwunden war - egal, wie -, dann war nun zur Abwechslung jemand anders dafür verantwortlich. Natürlich oblag es ihm als Familienoberhaupt, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen. Er konnte die Sache nicht guten Gewissens einfach auf sich beruhen lassen. »Bernie, du weißt nicht zufällig was über diese Geschichte?«
Da die Worte seines Vaters eher eine Feststellung als eine Frage waren, widersprach Bernie nicht und versicherte Mr. Karp, dass er nicht die geringste Ahnung hatte - eine Aussage, die niemand in Zweifel ziehen würde. Dann warf er seiner Schwester einen Blick zu, die er mit der Drohung mundtot gemacht hatte, über ihre nächtlichen Kellerverabredungen zu plaudern. Madeline, die sichtlich schon die Sekunden zählte, bis sie diese Klapsmühle verlassen und ins College zurückkehren konnte, begriff den Hinweis ihres widerlichen kleinen Bruders und bekannte gleichfalls ihr Unwissen.
Mr. Karp zog einen entschiedenen Flunsch, den seine Frau mit einem schiefen Grinsen parodierte, und damit hatte sich die Sache fürs Erste. Danach war es, als hätte das Wesen im Keller nie existiert. Auch Bernie war sehr erleichtert, weil er darauf baute, nun ungestört die vertrauliche Beziehung zu dem aufgetauten alten Herrn fortsetzen zu können, dem er Unterschlupf gewährt hatte.
Bernie selbst hätte kaum erklären können, weshalb das Geheimnis so gewissenhaft gehütet werden musste, doch obwohl ihm bewusst war, dass ein Mensch einen anderen nicht besitzen konnte, hatte er doch das Gefühl, dass der Rabbi ihm gehörte. Diesen Gedanken hatte er bereits gefasst, kurz nachdem der Alte die Tiefkühltruhe verlassen hatte und von Bernie mit anfänglichem Widerwillen in Badehandtücher gewickelt worden war, um seine morschen Knochen zu wärmen. Dann hatte er den alten Kerl mit einem Flanellpyjama seines Vaters ausgestattet und ihn im Gästehaus hinter dem Familiendomizil untergebracht. Dieses Gästehaus stand (mit Ausnahme von Netties regelmäßigen Abstaubaktionen und Madelines romantischen Verabredungen) seit dem Tod von Grandpa Ruby kurz nach Bernies
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