Der gefrorene Rabbi
die eisige Luft verpestete, musste sie erkennen, dass sie sich verirrt hatte. Kaum war sie umgekehrt und um eine scharfe Kehre gebogen, wurde sie von einem hohlwangigen Burschen angesprochen, dessen Schläfenlocken sich vor den Ohren kringelten wie Ackerwinden. In seiner kurzen Alpakajacke und den noch affektierteren zitronengelben Gamaschen wirkte er wie eine Mischung aus jeschiwe-bocher und Geck.
»Du sollst hobn auf diesen unsicheren Gassen einen Begleiter«, erklärte er mit zischender Stimme und nahm ihren Arm.
Ruckartig riss sie sich los und erwiderte bebend: »Hob ich noch nie einen gebraucht.«
»Du bist die Eiskrämerin.« Es klang, als wollte er ihr die Rolle zuweisen, die sie bereits innehatte. »Die zeigt den jinglß die kalte Schulter.« Er streifte einen Handschuh ab, um den Mittelfinger in ein Fässchen Parfait auf ihrem Karren zu tauchen. Nachdem er langsam darin gerührt hatte, leckte er den Finger mit der Zunge ab, und es hätte Jochebed nicht gewundert, wenn sie gespalten gewesen wäre. Dann schloss er die Augen und schmatzte mit den sinnlichen Lippen. Er zog den Lederschirm seiner Mütze nach unten und packte sie wieder am Arm, fester diesmal. Sie wollte sich frei machen, und zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Jochebed Angst. Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts ein anderer Mann in einem abgewetzten Pelzmantel auf, das Gesicht wie gesprungenes Geschirr, und griff nach ihrem anderen Arm. Er drückte ihr ein feuchtes Tuch mit einem widerlich süßen Geruch über die Nase, und Jochebed warf schnaubend den Kopf hin und her, um die Dämpfe wegzublasen. Doch je mehr sie sich gegen das mandelartige Aroma wehrte, desto tiefer atmete sie es ein, und ihr Gehirn wurde aus seiner Achse geschleudert. Um sie herum taumelten die Häuser, deren Mauern auf verzogene Holzbalken gestützt waren wie Bettler auf Krücken, und die Sonne zeigte noch ein letztes Mal ihre flackernde Flamme, ehe sie erlosch.
1999
A m Abend nach der Heimkehr aus Las Vegas servierte Mrs. Karp ein Hackfleischgericht, dessen fauliger Geschmack allen auf den Magen schlug. »Ich kann nichts dafür.« Sie war immer noch benommen vom Jetlag und dem Phenobarbital, das sie tags zuvor eingenommen hatte. »Ich bin nicht die Köchin.«
Die Köchin war Nettie, eine abgebrühte Kirchgängerin mit geschwollenen Fußgelenken, die einmal ins Bad geplatzt war und Bernie in flagranti mit einer Wäschewerbung aus einer Zeitung in der Wanne erwischt hatte. »Hab nix gesehen«, versicherte sie ihm und knallte die Tür zu, doch danach ging sie ihm genauso aus dem Weg wie er ihr. Manchmal brummelte sie vor sich hin, was für eine schwere Prüfung es war, für »Judrische« zu arbeiten - wobei der Haushalt der Karps nichts besonders Hebräisches aufwies, außer man zählte die frostige Reliquie aus der Alten Welt mit, die Nettie, falls sie davon wusste, zumindest nie erwähnt hatte. Aber natürlich war sie vertraut mit der Tiefkühltruhe und hatte auch an diesem Morgen das Rinderhack für den Braten herausgenommen, und zwar in gefrorenem Zustand, wie Mrs. Karp bezeugen konnte.
Mr. Karp zupfte an einem schlaffen Ohrläppchen, um seinen deduktiven Fähigkeiten auf die Sprünge zu helfen, ehe er sich an seinen Sohn wandte. »Bernie, hat es bei dem Gewitter einen Stromausfall gegeben?« Er und seine Frau hatten nach ihrem Wochenendausflug überall in der Stadt die Verwüstungen gesehen, die der Sturm hinterlassen hatte.
Automatisch antwortete Bernie, ja, es hatte eine Art Stromausfall gegeben, doch gleich darauf hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Heureka!«, erklärte Mr. Karp triumphierend. »Das Fleisch in der Kühltruhe muss getaut und dann in verdorbenem Zustand wieder gefroren sein. Rätsel gelöst.« Er bleckte sein Pferdegebiss und runzelte dann die Stirn, als ihm einfiel, dass der gesamte Familienvorrat an Truthähnen und Braten damit ungenießbar war und entsorgt werden musste. »Sag Nettie, sie soll die Kühltruhe morgen früh ausräumen«, empfahl er seiner Frau, die konterte, dass er es ihr doch selbst sagen sollte.
Nachdem sie die Anweisungen ausgeführt hatte, schleppte sich Nettie am nächsten Tag die teppichbezogene Treppe hinauf, um der Hausherrin Bericht zu erstatten, die bei geschlossenen Vorhängen im duftstoffgeschwängerten Schlafzimmer ruhte. Um halb zwölf war Mrs. Karp noch immer im Morgenmantel und schaute mit leerem Blick von den dampfenden Seiten eines Romans von Arabesque Latour auf, als ihr die stiernackige
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