Der gefrorene Rabbi
Keller gleich gegenüber, und der Junge, der mit dem gegenwärtigen Arrangement zufrieden war, ermunterte ihn auch nicht zu mehr. In der Zwischenzeit setzte Rabbi ben Zephir seine kulturelle Akklimatisierung auf dem Sofa im Hobbyraum fort (in den Bernies Eltern nie einen Fuß setzten), versunken in die Parade von Seitensprungverdächtigungen, die sich als unbegründet erwiesen; die heißen Umarmungen, in deren Verlauf die Liebenden sicher nicht an die Thora dachten; die Reklame für Haarentfernung, Penisvergrößerung und Blasenkontrolle. Zumeist verfolgte der Alte das Geschehen mit eulenhafter Objektivität, doch einmal brachte ihn das hysterische, durch eine bestimmte Wortschöpfung veranlasste Gelächter aus der Konserve sichtlich aus der Fassung: Ein Jude, der Unzucht mit schikßeß trieb, machte einen Witz darüber, dass die bunten Ohrringe seiner Freundin klirrten wie Fensterscheiben in der Kristallnacht.
»Woß is Kristallnacht?« Die Frage des Rabbis war ein wenig rhetorisch, da er von Bernie bislang kaum befriedigende Auskunft erhalten hatte.
Und tatsächlich hätte der tölpelhafte Bernie Karp noch vor wenigen Wochen keine ausreichende Antwort geben können; doch dank der Judaika, die er nach dem Erwachen des ehrwürdigen Greises aus der Synagogenbibliothek nach Hause gebracht hatte, hatte sich das geändert. Er verfügte über ein großes Buch mit schattenhaften Schwarz-Weiß-Aufnahmen, das er dem Alten zeigte. Elieser studierte es so aufmerksam, wie er es früher bei heiligen Schriften getan haben mochte, und Bernie fand, dass diese Pose von der authentischen Vergangenheit des Rabbis zeugte. Natürlich konnte Elieser die Bildunterschriften nicht entziffern. Doch obwohl ihn die dokumentarischen Fotos offenkundig fesselten, lehnte er mit einem entschiedenen Kopfschütteln ab, als Bernie vorlesen wollte. Dann schlug er das Buch ohne ein Wort zu und schob es von sich weg, um sich wieder dem Fernseher zuzuwenden, den er betrachtete wie einen Sonnenaufgang vom Bug eines Schiffs aus. In diesem Augenblick fragte Bernie den Rabbi wieder einmal, wie er so lange in einem Eisblock überlebt hatte.
Zunächst schien Elieser den Jungen zu ignorieren und kratzte sich die Wange, von der die Haut abblätterte wie poröse Farbe. »War ich gespeist von Visionen, die le-havdil kann nicht einmal erreichen Akte X und Das Hausbau-Kommando .« Doch nachdem er eingeräumt hatte, dass die Fernsehkost sich nicht messen konnte mit den unendlichen Gefilden des spirituellen Lebens und den glanzvollen Meditationen, zu denen er sich früher aufgeschwungen hatte, stellte er fest, dass er jetzt genug davon hatte. Genau da erschien auf dem Bildschirm eine Werbung, in der ein Typ in Maßanzug und Brille, die ihm über den schmalen Nasenrücken rutschte, feierlich versprach, preiswerter als alle anderen zu sein. Er öffnete die Türen von Kühlschränken und Herden, um ihr geräumiges Innenleben zu zeigen, und intonierte: »Kluge Köpfe kaufen bei Karp …«
Der Rabbi gab ein stöhnendes oj von sich und schaltete schnell mit der Fernbedienung um, in deren Gebrauch er inzwischen geübt war.
Erstaunt über seine eigene Beharrlichkeit drängte Bernie den Alten, ihm Einzelheiten seiner visionären Erfahrungen zu schildern. Ohne den Fragesteller eines Blicks zu würdigen, erwiderte Elieser: »Vielleicht in dem Fernsehen siehst du nicht die merkaba oder den Thron der Herrlichkeit, siehst du nicht doß göttliche ponem - woß ist doß Antlitz Gottes -, aber hob ich schon gesehen doß Gesicht Gottes und kann ich dir sagen, is es nicht so schön.«
Bernie war zwar ein wenig betroffen von dieser despektierlichen Äußerung, doch er ließ sich nicht beirren. Obwohl er seine zufällige Lektüre ohne Betreuung durch den Rabbi fortsetzte, hatte er das Gefühl, bei seinen Ausflügen in die Welt Elieser ben Zephirs immer noch unter dessen Aufsicht zu stehen.
Aus der gut ausgestatteten Bibliothek der im Präriestil gestalteten Synagoge, die einen knappen, gut beschatteten Kilometer von seinem Haus entfernt lag, borgte sich Bernie die Standardgrammatik des Jiddischen von Weinreich aus. Die ehrenamtliche Helferin der Temple Sisterhood, eine alte Jungfer, deren helmartiges Haar mithilfe von Plastikspangen an ihrem Schädel festgetackert war, nahm ihn förmlich ins Kreuzverhör, als sie bemerkte, dass das Buch seit Menschengedenken nicht mehr ausgeliehen worden war.
»Es ist nicht für mich.« Aus dem Stegreif fabulierte Bernie eine Geschichte darüber
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