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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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konnte.
    Nach einiger Zeit hatten beide genügend Brocken der Sprache des jeweils anderen aufgeschnappt, dass ein tastender Dialog möglich war. Bernie war begeistert, dass er sich das herzhafte Idiom seines Gasts allmählich aneignen konnte, doch noch mehr beeindruckten ihn die raschen und scheinbar mühelosen Fortschritte des Rabbis. Aber natürlich hatte Elieser ben Zephir - der Alte hatte eine Weile gebraucht, bis ihm sein Name wieder einfiel - einen Vorteil im ständig laufenden Fernsehgerät, das ihn faszinierte, seit er aus der Tiefkühltruhe gepurzelt war.
    Einer Eingebung folgend, hatte Bernie den Rabbi, sobald seine Spinnenbeine wieder gehfähig waren, auf dem gepflasterten Weg zurück zum Haupthaus gebracht, an dessen Rückseite eine Tür hinunter in den Keller führte. Der Fernseher im Hobbyraum half dem Alten nicht nur sprachlich auf die Sprünge, sondern machte ihn auch mit einer Kultur bekannt, die ihn vielleicht bei einer unmittelbaren Begegnung überfordert hätte. Offenbar war diese Kultur für ihn genauso fesselnd wie seine dunkle Herkunft für Bernie, der den Rabbi bei jeder Gelegenheit bedrängte, um mehr über dessen Vergangenheit zu erfahren. Meistens mussten diese Gelegenheiten in Werbepausen wahrgenommen werden. Allerdings besaßen auch Werbesendungen einen ganz eigenen Unterhaltungswert und verboten daher jede Unterbrechung. Doch im Lauf der Zeit entwickelten die beiden eine Art Quidproquo, da Rabbi Elieser nun auch dem Jungen Fragen über Amerika stellte, nachdem er begriffen hatte, dass dies der Ort war, an den es ihn verschlagen hatte.
    Es schien ihn zu faszinieren, dieses Amerika, oder zumindest jener Teil, den er durch das gebogene Fensterglas des Schranks im Zentrum des Hobbyraums betrachtete. Der Weg dorthin und wieder zurück ins Gästehaus stellte Eliesers einzige körperliche Betätigung dar. Nachdem er den Rabbi mit dieser passiven Einführung in die Welt vertraut gemacht hatte, bedauerte Bernie es ein wenig, dass dieser nach seinem Jahrhundertschlaf in dem einen Kasten sich so schnell in den Bann eines anderen ziehen ließ. Doch was Rabbi ben Zephir gefiel (und sein knorriges Auftreten ein wenig dämpfte), erfreute auch den Jungen. Für die allgegenwärtigen Nachrichtensendungen zeigte der Alte nur geringes Interesse: Der unaufhaltsame Vormarsch der apokalyptischen Reiter war schon ein verbrauchtes Thema gewesen, bevor der Rabbi in seinen Schlummer verfiel. Aber die griesgrämige Frau, die bei ihrem täglichen din tojre mit dem Scharfsinn eines Daniel Haarspaltereien über Gesetze zu Ehebrechern und Schwindlern betrieb; der blasierte Herr, der öffentliches loschn-hore förderte und Begegnungen zwischen Menschen arrangierte, die sich gegenseitig betrogen; die beleibte Schwarze, die ihre Gäste zu intimen Geständnissen bewog und offen über ihre hiobartigen Heimsuchungen weinte; groteske Chirurgen, geschwätzige Meisterköche, treulose Paare, falsche Schiffbrüchige, halbwüchsige Exorzisten und der mehrfach zur Unzucht mit schikßeß verleitete Jude waren unendlich faszinierend für den alten Elieser. Besonders aufschlussreich fand er die Bereitschaft von Bürgern, ihre Indiskretionen in öffentlichen Foren auszutragen.
    »Wenn ein Mann an anderen Mann verkauft seine Frau«, fragte er in dem Kauderwelsch, an das sich Bernie allmählich gewöhnte, »is nicht Reb Springer verpflichtet, dass reißt er ihm aus der Brust doß farkakte harz?« »Wenn sie schwingen mit biegsame Beine, diese Töchter, bei den Orgien von dem MTV, da sagen nicht ihre Väter schon doß kaddisch für sie?«
    Solche und zwanzig ähnliche Fragen stellten Bernie auf eine harte Probe. Die Freizügigkeit seiner Kultur, von der er sich ungerechterweise ausgeschlossen fühlte, war etwas, was er und alle anderen für selbstverständlich hielten. Doch vor allem fiel ihm auf, dass sich der Alte bei all seiner Dünnhäutigkeit eigentlich nicht weiter aufregte über das, was im Fernsehen geboten wurde. Vielmehr waren Eliesers Erkundigungen von einem empirischen Ton geprägt, der fast vermuten ließ, dass er sich mit der Hinfälligkeit alter Urteile abgefunden hatte und darauf bedacht war, die Natur des Neuen in der verderbten westlichen Welt zu ergründen.
    Nach mehreren Wochen wurde Bernie klar, dass der Rabbi genügend Kräfte gesammelt hatte, um seine Klause zu verlassen. Aber trotz einer zeitweiligen Rastlosigkeit zeigte der Alte keine Neigung, sich weiter von seinem Bett zu entfernen als bis zu dem getäfelten

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