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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Trotzdem hatte ihr Papa seine Tochter vom Sofa gehoben, wo sie mit hochgeschobenem Hemd gelegen hatte, gerade als Zygmunt persönlich ins Zimmer stürmte und mit heiligen Flüchen auf den Lippen ihren Papa attackierte, der bereits aus einem Dutzend Wunden blutete. Aber es gelang ihm, das völlig ermattete Mädchen aus dem Bordell und über die Treppe hinab auf die matschigen Straßen zu tragen. Mit letzter Kraft wankte er an Tausenden Zeugen vorbei: Geflügelhändlern, Losverkäufern, Fabrikarbeitern mit rostfarbenen Augen und Marktweibern, sogar dem Zuhälter mit seinen Schläfenlocken und zitronengelben Gamaschen, der dem Nachtwächter folgte, aber es nicht wagte, ihn vor so vielen gaffenden Schaulustigen weiter anzugreifen. So taumelte Salo mit seiner Bürde den ganzen Weg zur Zabludevestraße, wo er das in den blutigen Schafpelz gehüllte Mädchen auf die Pritsche hinter dem Herd legte und den Vorhang zuzog, damit sie für sich sein konnte. Danach streckte er sich auf seinem Bett aus, und während ihn seine Frau einen hoffnungslosen Einfaltspinsel schalt und drohte, ihm noch weitere Wunden zuzufügen, dämmerte er langsam hinüber.
    Oder war er bereits ein wandelnder Toter gewesen, als er seine Tochter aus dem schand-hojs nach Hause brachte? Dieses Gerücht verbreitete sich im Getto und faszinierte dessen Bewohner, von denen einige sich noch daran erinnern konnten, dass Salo bei seinem Einzug in die Stadt eine Legende vorausgeeilt war. War er nicht als der Hüter der Überreste eines berühmten zadik aufgetaucht? Allerdings herrschte Uneinigkeit in der Frage, ob der Heilige tatsächlich verblichen war. All das war lange her, doch die vage Erinnerung daran verstärkte die Wahrnehmung, dass Salo Frostbissen ein heiliger Krieger war, der sich aus seiner Winterruhe in Pisgats Eishaus erhoben hatte, um wider die bösen Elemente zu streiten. So ermutigt fühlte sich die örtliche Bevölkerung von Salos Märtyrertum, dass Zygmunt der Zuhälter vor Jochebeds Tür auf eine Schar von knüppelschwingenden Nachbarn stieß, als er das ihm entwendete Eigentum zurückfordern wollte.
    Der jenzer schwor auf den siddur in seiner Hüfttasche, dass er Verstärkung holen würde, und machte sein Versprechen auch wahr, als er mit einer handverlesenen Horde von organisierten schtarkerß wiederkehrte, um jedem den Schädel einzuschlagen, der sich ihm entgegenstellte. Doch er kam zu spät, da er sich mit der Durchführung seiner Vergeltungsmaßnahme nicht sonderlich beeilt hatte (und sich auch keiner großen Beliebtheit erfreute): Jochebeds Mutter weilte nicht mehr unter den Lebenden. Nachdem sie ihn zeit seiner Tage gepiesackt hatte, hatte sie offenbar nicht die Absicht, sich durch den Tod von ihrem Gatten trennen zu lassen, und folgte ihm mit einem beißenden Vorrat an Beschimpfungen ins Jenseits, die sie ihm während ihres irdischen Zusammenseins vorenthalten hatte. Nach dem Befund des Leichenbeschauers war sie an gebrochenem Herzen gestorben, das ihr nur wenige zugetraut hatten, und ihre Tochter war danach spurlos verschwunden.
    Doch das geschah erst einige Zeit später, nachdem Jochebed aus dem Albtraum erwacht war, der ihr wie die verhedderte Schleppe eines geisterhaften Kleids ins Bewusstsein nachgeschleift war. Wie sie jetzt begriff, schmerzte ihr Körper von den Injektionen, die ihr Zygmunt der Zuhälter mit einer spitzen Spritze unter die Haut verabreicht hatte, um ihren Willen zu brechen und sie zu seiner Sklavin zu machen. In den nebelhaften Wochen ihrer Gefangenschaft war fast kein Teil ihrer Anatomie von der Nadel verschont geblieben. Arme, Beine, Hintern - alles trug die bösen Male dieser Misshandlung. Jetzt hatte die Entzündung von ihrem Leib auf ihren schlaflosen Verstand übergegriffen, der das Grauen nicht mehr auf einen fernen Traum zurückführen konnte. Und je wacher sie wurde, desto stärker wurde das Grauen, bis der Traum alles beherrschte und sogar die Einrichtung der Kellerwohnung verdrängte. Während der Qualen des Morphiumentzugs schlug Jochebed wild um sich und wehrte sich gegen ihre erschöpfte Mutter, die sich dazu gezwungen sah, ihre Tochter, unterstützt von der Hebamme, mit Lederriemen an die Pritsche zu binden. In diesem Stadium erinnerte sich das Mädchen daran, wie sie schon einmal gefesselt worden war, und da erkannte sie die furchtbare Wahrheit.
    Die Einzelheiten wurden ihr durch die ständigen Tiraden ihrer Mutter enthüllt. »Oj, dein Papa, der jold, der Esel«, jammerte Bascha Pua. »Sog ich

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