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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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kalten Steinplatten stand. Angetrieben vom Klopfen ihres Herzens suchte das Mädchen den Nähkasten ihrer Mutter, zog eine Schneiderschere heraus und schnitt sich, nur geleitet von ihrem unscharfen Spiegelbild auf der Kupferoberfläche, ihre rabenschwarze Mähne ab. Derart geschoren, schleuderte sie den Trog weg und trat mit einem Schluchzen, das aus ihrer Brust hervorbrach wie eine Feuersbrunst, nach den Haaren auf dem Boden. So war ihr bedauernswerter Zustand, als sich scharrend die Tür zum Gang öffnete und Schulamith, die Hebamme, Kräuterköchin und gelegentliche Klistiermagd, hereinschlich.
    Ohne ein Wort - hatten sie je miteinander gesprochen? - erfasste das Weib die Situation. Schniefend umklammerte Jochebed ihre Brüste, als wollte sie sie ein für alle Mal zermalmen, während die Alte geradewegs auf die Kleidertruhe zusteuerte und den Deckel hob, mit einer Geste, die etwas Wundersames an sich hatte (viele hielten sie auch für eine kischef-macherin, eine Zauberin). Aus dem nach Kampfer riechenden Inneren förderte sie ein Kleidungsstück zutage: den dunkelblauen Kammgarnanzug mit Alpakafutter und fallendem Revers, den Jochebed in besseren Tagen für ihren Vater gekauft hatte. Salo, der in seinem Bauernkittel und Schaffell schlief, hatte nie Gelegenheit gefunden, ihn zu tragen, wenngleich er stolz war, ihn zu besitzen, und gelobte, ihn anzulegen, an dem Tag, wenn endlich der moschiach erschien oder wenn sich der Rabbi aus dem Eis befreite. Seine Frau hatte gespottet, dass er nur darauf wartete, sich in seinem vornehmen Staat begraben zu lassen, und später in dem sentimentalen Streben, ihm diesen Wunsch zu erfüllen, sogar mit der Beerdigungsbrüderschaft gestritten, die solche fertig gekauften Gewänder zum Frevel erklärte.
    Nachdem sie für das Scheren ihres Haars die letzten Kräfte verbraucht hatte, beobachtete Jochebed fast teilnahmslos, wie Schulamith die Kleider über das durchhängende Federbett breitete. Und sie sträubte sich nicht, als ihr die Hebamme in die warmen, wollenen gatkeß und in das weiße Hemd mit der steifen Brust und dem hochstehenden Kragen half. Dann folgten die Nadelstreifenhosen mit den doppelt genähten Knöpfen im Schritt und das einreihige Jackett. Dazu gab es ein Paar mehrere Nummern zu große Lederhalbstiefel, die die Alte mit Zeitungen ausstopfte, deren Schlagzeilen meldeten, dass der Dampfkessel Europa kurz davor war zu explodieren. Es war wohl nur angemessen, sinnierte die noch immer ziemlich benebelte Jochebed, dass die wartsfroj, die schon ihre Geburt überwacht hatte, nun auch ihrer Wiedergeburt als bleicher junger Mann beiwohnte. Zwar schlotterten die Kleider ein wenig um ihre schlanke Gestalt, aber das Mädchen spürte die merkwürdige Ahnung, dass sie hineinwachsen würde. Als Fremde in ihrer eigenen Haut fand sie auf einmal zu einer Gefasstheit, die sie seit ihrer Entführung nicht mehr erlebt hatte. Dabei hatte sie weniger ein Gefühl von Heimkehr als eines der Befreiung von einem verbrauchten Selbst.
    Trotz der rußigen Augen und der haarigen Oberlippe war Schulamith einmal verheiratet gewesen und band nun mit knotigen Fingern gewissenhaft die aschgraue Krawatte um Jochebeds Hals. Dann nahm sie die Schere und begradigte die ungleichmäßigen Ränder des Haars, das das Mädchen so rücksichtslos gestutzt hatte. Danach standen sie einander gegenüber und musterten sich mit der Vertrautheit von Verschwörerinnen, die dem Gesetz die Stirn geboten hatten; denn selbst ungelehrte Frauen wussten, dass die Thora das Tragen von Kleidern des anderen Geschlechts verbot, weil es nicht nur andere, sondern auch die Seele des Frevlers täuscht, die sich verwirrt im Körper eines Fremden wiederfindet.
    »Asoj«, stellte die Hebamme mit einem beunruhigend mädchenhaften Trällern fest, »bist du jetzt wieder nagelneu.« Aus der Tasche ihrer Kattunschürze nahm sie zwei Gulden, die sie erhalten hatte für das Verpfänden von Bascha Puas chalat, dem Porzellanspucknapf und der Kuriosität eines Zedernholzeimers zur Zubereitung von Speiseeis. Im Gegenzug drückte das Mädchen einen Kuss auf die runzlige Stirn der kischef-Macherin, die Jochebed in ihrer vernebelten Fantasie einen kurzen Augenblick lang wie eine junge Frau erschien.
    Nach dem Aufbruch der Alten ließ sich Jochebed auf ihre Pritsche fallen, um über ihre Lage nachzudenken. Selbst in ihrer Benommenheit erkannte sie, dass sie mit Schulamiths Almosen die Kosten für ihr Vorhaben nicht annähernd bestreiten konnte. Es

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