Der gefrorene Rabbi
Abwesenheit als »die drei verlorenen Tage«.
1907
J ochebed erwachte auf ihrer geflochtenen Pritsche aus einem schrecklichen Traum. In dem Traum war sie in einem fremden Haus voller unbekannter Frauen und Männer - die Frauen zumeist in losen Kitteln und Gewändern auf mottenzerfressenen Sofas in einem schlecht beleuchteten Salon, während die Männer kamen und gingen, kamen und gingen; allerdings wusste sie nicht, was sie in dem Haus wollten. Dann tauchte plötzlich in furchterregender Weise ihr Vater auf; mit völlig ungewohntem Zorn drang er in den Salon ein, in dem sie saß. Die jahrelangen Nachtwachen und das Patrouillieren im Eishaus hatten das Mark in Salos Knochen durch Raureif ersetzt, seine Gelenke waren steif und sein Rücken krumm wie ein Hirtenstab. Doch in dem Traum stürzte er wie ein wilder Stier ins Zimmer und schwang eine Brechstange über dem Kopf, mit der man ansonsten Eisplatten auseinanderstemmte. Diese zog er einem Mann über den Kopf, der die zerzauste Jochebed befummelte. Daraufhin griffen andere Männer ihren Papa mit Schlägen und Dolchen an, weil er wehrlos war, nachdem er die Brechstange hatte fallen lassen, um seine Tochter hochzuheben. Fast schien er die Messerstiche zu begrüßen, drehte sich hin und her, um sie zu empfangen, und schützte das Mädchen mit einem Stegreifwalzer vor Verletzungen.
Das Bild ihres Vaters, der sie beschirmte, während ihm das Blut aus den Wunden strömte, prägte sich in Jochebeds Gehirn ein wie ein Siegelring in heißes Wachs, dann löste sich der Abdruck des Bildes, und das Wachs sickerte hinab in ihre Brust und Eingeweide. Sie bemerkte ihre hohlwangige Mutter, die sich in ihrer Kellerwohnung über sie beugte, ihr mit einem feuchten Umschlag die Stirn kühlte und vor sich hin schimpfte, nur dass das auf einmal nicht mehr zum Traum zu gehören schien. Auch der halb zugezogene Flickenvorhang fiel ihr auf und das Feldbett dahinter, eine eingesunkene Wolke in einem emaillierten Eisenrahmen, auf der ihr nackter Vater lag. Seine elfenbeinbleichen Glieder waren bedeckt mit klaffenden Wunden, so groß wie offene Münder, und eine Schar mürrischer Männer mühte sich, diese zuzunähen und ihn mit in Salzlauge getränkten Schwämmen zu waschen. Jochebed fand es merkwürdig, dass der geschundene Körper ihres Vaters aus einem Traum in einen Keller voller spinnwebbehangener Milchkannen geschafft worden war. Nachdem sie dies alles beobachtet hatte, stöhnte sie laut auf und flüchtete sich in die tieferen, traumlosen Schichten des Schlafs.
Als sie erwachte, erblickte sie wieder ihre Mutter, die ihr die Lippen anfeuchtete und darauf bestand, dass sie einen Löffel Gerstenbrei zu sich nahm, gegen den sich ihr Magen auflehnte. Neben ihrer Mutter stand die Hebamme mit ihrem Husarenschnurrbart, die vor beinahe zwei Jahrzehnten die Geburt des Mädchens überwacht hatte. Doch das Bett, auf dem ihr Vater gelegen hatte, war jetzt leer. Jochebed sah das als Beweis, dass der böse Traum endlich vorüber und sie tatsächlich wach war. Bestärkt wurde sie in dieser Schlussfolgerung durch die Pein im Herzen und in den Organen, die sich nach etwas sehnten, was ihr umnebelter Verstand nicht zu benennen vermochte. Der Schmerz drang in alle Fasern ihres Körpers vor und durchtoste ihre Haut mit einem allgegenwärtigen Ziehen. Diese Haut lechzte nach weiterer Strafe, während ihr Gehirn in teilnahmsloser Ferne verharrte, als wäre es mit feuchter Gaze umwickelt. Obwohl sie erkannte, dass sie entsetzliche Qualen litt, waren diese so fern von ihr wie die Erinnerung an ihren Traum, dessen Bilder vereinzelt auftauchten, um sich wieder in Nebel aufzulösen. Doch einige blieben und gewannen allmählich an Klarheit, und wieder erblickte sie ihren nackten Vater mit den ginsterartigen Haar-und Bartbüscheln, der eingesunkenen Brust, den Genitalien wie Eiern im Nest. Diese Vorstellung wollte nicht zu dem Bild des rasenden Nachtwächters passen, der sich in dem Traumsalon benahm wie in seinen Fabelgeschichten, in denen er Eindringlinge in die Flucht schlug, Geschichten, die sie schon im Kindesalter als Lügen durchschaut hatte.
Wieder sah sie vor sich, wie er in dem schäbigen Raum die Brechstange schwang und sie einem Kerl auf den Schädel hieb, an dessen Namen sie sich plötzlich zu erinnern glaubte: Wolfie, der schielende Famulus von Zygmunt dem jenzer, dem Zuhälter. Dann brach Wolfie zusammen, aber nicht ohne dem Eindringling noch ein oder zwei Stiche in Brust und Backe zu versetzen.
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