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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Bundeslade, und Salo Frostbissen der mit ihrer Instandhaltung beauftragte Hohepriester. Natürlich war das alles Gewäsch. Wer unbedingt Wert darauf legte, konnte auch auf andere Weise Buße tun für seine Sünden; es gab Rituale der Reinigung und Sündenböcke, die man mit den eigenen Verfehlungen beladen konnte. Aber der gefrorene Rabbi war Salos einzige Hinterlassenschaft, sein Vermächtnis. Und da sie den Namen ihrer Familie auf eine nicht wiedergutzumachende Weise befleckt hatte, blieb Jochebed nur diese einzige Geste, um das Andenken ihres Papas zu ehren.
    Nachdem sie sich vom Krankenbett erhoben hatte, galt ihr erster Ausflug der Bestattung ihrer Mutter. Immer noch benommen und unsicher auf den Beinen, das trauernde Haupt umhüllt mit einem Biberschal, bemerkte Jochebed staunend, wie viele Trauernde sich am Grab versammelt hatten. Dies war umso verwunderlicher, als Bascha Puas Beerdigung so rasch auf die ihres Gatten folgte, ganz zu schweigen von ihrem Ruf als unverbesserliche Giftspritze. Doch im Tod wurden der einfache Arbeiter Salo und seine freudlose Witwe verklärt: er zum Helden und sie zur Helferin, die ihm so ergeben war, dass sie sein Ableben nicht ertragen konnte. Diese ergreifende Geschichte stand in nichts den fantastischen Erzählungen nach, mit denen Salo vor langer Zeit in der arktischen Umgebung des Eishauses seine Tochter unterhalten hatte.
    Stürmisch und bedeckt war der Morgen des Begräbnisses heraufgezogen, und der Boden im Friedhof hinter den Mauern der Tuchfabrik war noch hart, doch hier und da war schon ein Krokus durch die Kruste gebrochen. Nach ihrer langen Abwesenheit nahm Jochebed es der realen Welt beinahe übel, dass sie ohne sie weiterexistiert hatte, und sie drückte den Erdklumpen, den sie in das Grab ihrer Mutter werfen sollte, so fest zusammen, dass er in ihrer Hand zerbröselte und vom Wind zerstreut wurde. Nach der Zeremonie begleiteten die Trauernden, einige von ihnen stramme Fuhrleute und ausgezehrte jeschiwe-bocherim, das Mädchen zurück in die Zabludevestraße. Sie kümmerten sich rührend um sie, besorgt um ihre Gesundheit und Sicherheit, und einen Moment lang gestattete sich Jochebed die Hoffnung, dass ihr das Getto als Tochter ihrer Eltern immer offenstehen würde. Vielleicht war es doch nicht ausgeschlossen, die stillen Freuden der Eiszubereitung wieder aufzunehmen. Doch als sich die Fuhrleute mit dreister Ungeniertheit um sie drängten, während die Talmudschüler Abstand hielten wie vor einer Ansteckungsgefahr, erinnerte sich das Mädchen an die durch nichts zu tilgende Schande und die noch immer bestehende Gefahr. Sie war entsetzt, dass der Kummer über ihre eigene Verderbtheit auch nur einen Augenblick den Gram um ihre Eltern verdrängt hatte, an deren Tod sie zum großen Teil die Schuld trug.
    Während Jochebeds Abwesenheit hatte die alte Schulamith den Keller geputzt und abgestaubt und dabei einige (ihr wohl zustehende) Luxusartikel entfernt - den Bronzeschneebesen, die Emaillebettpfanne -, mit denen das Mädchen seine Mutter in glücklicheren Zeiten überschüttet hatte. Mögen sie der alten ganewte gute Dienste leisten, dachte Jochebed, der nicht entgangen war, dass die Frau als Ausgleich zu ihren Mühen auch selbst gemachten Käse und eine Flasche Schnaps für die Gäste beigesteuert hatte. Der Käsegestank half, den stickigen Geruch von Krankheit und Tod zu zerstreuen, der noch immer in den Räumen hing. Nachdem die weißgesichtigen Männer der chewre-kadische das Totengebet gesprochen hatten, brachen die Trauergäste auf, und Jochebed war endlich allein. Vollkommen erschöpft sackte sie auf einen Holzhocker, legte den Kopf auf ein Nudelbrett und schlief ein. Sie träumte von einem verzagten Vögelchen, dessen Flügel schwer herabhingen und nicht flattern wollten. Als sie erwachte, stieß sie ein tiefes Seufzen aus und erhob sich langsam, um den kupfernen Backtrog abzunehmen, der an einem Deckenbalken hing. Da der einzige Spiegel der Wohnung zur Wand gedreht war, blickte sie auf ihr verzerrtes Bild auf der trüben Oberfläche des Trogs und sah nur einen Geist, der sie anstarrte. Nachdem sie bereits den Seidenkragen ihres Trauerrocks, des einzigen in einem Laden gekauften Kleidungsstücks in ihrer Garderobe, nach ritueller Vorschrift zerrissen hatte, zerrte sie ihn sich nun ganz von den Schultern. Dann zerfetzte sie mit beiden Händen den Batiststoff des Korsetts darunter und schüttelte die zerstörten Gewänder ab, bis sie nackt und zitternd auf den

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