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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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ihm, gehst du zur Polizei, aber sogt er, kümmert sich die Polizei nicht drum, woß die Juden anstellen mit ihren Töchtern. Deine Tochter is verschwunden, sog ich ihm, dann farwoß muss er auch verschwinden? Aber hört er nicht, lieber ontut sich a majße, der Selbstmörder. Ganz allein er bricht auf nach Gehenna, geht er in die Hölle, dass er dich holt.« In ihren Augen brannten heiße Tränen, denen sie nicht freien Lauf lassen wollte.
    Langsam entstand aus der bruchstückhaften Erzählung ihrer Mutter ein logischer Faden, der die Teile von Jochebeds Traum zusammenband und sie zu der bitteren Einsicht gelangen ließ, dass für sie kein Platz mehr war im Schoß ihrer zerbrochenen Familie. Sie war ein gefallenes Geschöpf, befleckt und entehrt, und musste in den Schweinestall zurückkehren, aus dem sie gerissen worden war. Ihr ganzer Körper bekräftigte dieses Verlangen, doch sie war zu schwach, diesem Bedürfnis zu folgen. Und wenn sie versuchte, sich von ihrem Lager zu erheben, zogen ihre Mutter und die wartsfroj Schulamith die Bande fester. Dann war es, als müsste das Mädchen an diese Welt gefesselt werden, damit sie nicht in eine andere entrann - obwohl Bascha Pua ihre Tochter zuletzt seltsamerweise beschwor, in eine andere, neue Welt zu fliehen.
    Fürs Erste jedoch hielten sie und Schulamith das Mädchen auf ihrer Pritsche fest, gaben ihr Brei, Kräuterabsud und Abführmittel ein und untersuchten ihren Stuhl, als wollten sie darin die Zukunft lesen. Sie setzten ihr Blutegel in die Achselhöhlen und erhitzten Gläser, in denen (zumindest nach Meinung der Hebamme) die aus Jochebeds Seele gezogenen Homunculi gefangen waren. Nach zwei Wochen wurde das Mädchen etwas ruhiger. Als die verschiedenen Wachebenen, die ihr Bewusstsein umspannte, allmählich zu einer gerannen, schaute Jochebed in ihrer Schwäche hinüber zu ihrer Mutter, die sich völlig erschöpft in das Bett gelegt hatte, aus dem erst vor Kurzem der Leichnam ihres Mannes abtransportiert worden war. Nur noch die alte Vettel in ihrem geblümten fartech leerte die Dreckkübel und schürte den Ofen, während Bascha Pua ihre Tochter im Fieber aufforderte, dieses Land zu verlassen: »Gej awek! Gehst du zu dem Goldenen Land.« Amerika war der Ort, an dem sie das Heil ihrer Tochter wähnte.
    Doch hatte Jochebed als Liebling ihres Papas nicht die Pflicht, ihm nachzufolgen? Allerdings machte der offenkundige Entschluss ihrer Mama, genau dies zu tun, diesen Gedanken wohl eher überflüssig, fast als würde die widerborstige Bascha Pua die Todespforte versperren. Überhaupt war es nicht so leicht zu sterben, und wenngleich sie sich noch wehrte gegen die von der alten wartsfroj verordneten Speisen, überwand ihr Körper (dessen Verlangen nach Rauschgift vom Appetit auf feste Nahrung verdrängt worden war) allmählich ihren Starrsinn. Außerdem schien ein buchstäblicher Tod kaum mehr lohnend, da sie sich ohnehin schon für so gut wie kaput hielt. Doch abgesehen vom Selbstmitleid wurde sie durch ihr physisches Überleben auf qualvolle Weise an die schreckliche Reise erinnert, die ihr Vater auf sich genommen hatte, um sie heimzuholen, eine Reise in die Unterwelt, von der er vielleicht allein mit seinem zerschundenen Leib zurückgekehrt war, während seine Seele schon unterwegs entflohen war. Jochebed spürte die wahnsinnige Anwandlung, sich als Gegenleistung auf die Suche nach der verlorenen Seele ihres Vaters zu machen. Da fiel ihr der alte Mann im Eis ein.
    Auch ihre Mutter hatte ihn eingeschlossen in ihre Bitten an das Mädchen, dem Schlammloch Balut den Rücken zu kehren. »Und vergisst du nicht, mitzunehmen den farschlogner rebbe, woß war von deinem Papa, soll er sein für dich ein Segen.«
    Jochebed wunderte sich, so etwas von den gesprungenen Lippen ihrer Mutter zu hören, die den eisumspannten zadik früher nur als Beweis für die narischkajt ihres Papas verflucht hatten. Nun schien das Beharren auf diesem Wunsch ein Zeichen dafür, dass es mit Bascha Pua zu Ende ging. Jochebed musste an die lächerliche Behauptung ihres Vaters denken, dass alles Glück ihrer Familie von dem kühlen Heiligen herrührte. »Welches Glück?«, hätte sie ihn jetzt gefragt. »Unser Leben ist doch ein einziges Elend.« Sie erinnerte sich, wie er beteuert hatte, dass sich der rebbe um jeden kümmerte, der sich um ihn kümmerte. Er war überzeugt, dass das religiöse Relikt ihrem kargen Dasein einen Sinn verlieh, als wäre die verrottende Kiste des Alten kein Sarg, sondern die

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