Der gefrorene Rabbi
Gewissensqualen wie nie zuvor. Nun war es zu spät, sich für den Bruder zu opfern, doch eine andere Möglichkeit stand ihm noch offen, wenngleich Schmerl allein bei dem Gedanken übel wurde vor Angst. Alle alten Schriften verdammten die Nekromantie, nur in einer dunklen Passage im Buch bosmath bat schlomo fand er das Gebet: »Baruch m’chaje ha-mejtim, geheiligt sei er, der die Toten erhebt.« Doch sooft er es auch wiederholte, Schmerl konnte nicht so recht daran glauben.
Aber er durfte nicht zaudern; heute war die Nachtwache, und morgen sollte der Leichnam des Jungen der Erde überantwortet werden. So machte er sich in Windeseile an die Arbeit, um nach den Prinzipien Faradays und Maxwells ein Hufeisen elektrisch zu magnetisieren. Wie er dabei vorzugehen hatte, war in Zeitschriften beschrieben, die seine Brüder bei Avigdor stibitzt hatten. Er umwickelte das Hufeisen mit einem Kranz aus Weicheisen- und isoliertem Kupferdraht auf Holzspulen und rüstete das Gerät ferner mit einer gekerbten Bleivorrichtung namens Stromwender aus, die aussah wie eine Natter mit einem Gummistiefelabsatz zwischen den Kiefern. Den fertigen Dynamo setzte er in eine Kaffeemühle aus Mahagoni und hängte ihn sich mit einem Barbierriemen um den Hals.
Als sich Schmerl in den frühen Morgenstunden ins Haus schlich, nahm er unter den gewohnten Gerüchen - Petroleum, Zwiebeln - ein anderes, zitronenscharfes Aroma wahr, das er auf den Tod zurückführte. Es war nicht gänzlich neu für ihn, denn der Tod gehörte praktisch zur Familie, doch in dieser Nacht, als er seinen Vater und seine Mutter sah, die zu beiden Seiten des Leichnams auf Kisten saßen, um Totenwache zu halten, empfand er eine namenlose Trauer. Zusammengesunken in seinem fadenscheinigen taleß, schnarchte der Ramschkrämer Todrus unruhig, während seine Frau mit einer Morgenhaube auf dem Kopf das Neugeborene stillte und dabei ebenfalls eingeschlummert war. Der tote Junge, bis zum Kinn in ein kleines Leichenhemd gehüllt, lag auf einer Matte zwischen ihnen, und über seinem Kopf flackerte die Andachtskerze hawdole.
Im Lauf der Zeit hatten die Karpinskis schon um einige Kinder getrauert, und hielt Chana Bindl nicht bereits Ersatz für den Toten an ihrer Brust? (Allerdings handelte es sich diesmal um eine Tochter, die kaum als Ersatz gelten konnte.) Doch trotz der Häufigkeit solcher Ereignisse nahm Schmerl diesmal eine besondere Bedrücktheit in der Atmosphäre wahr und hielt es für seine Pflicht, diese jahrhundertealte Bürde von seiner Familie zu nehmen. Das schwere Gewicht um seinen Hals ließ seine Gelenke knacken, als er sich hinkniete und die Elektroden in die Ohren des Toten schob. Dann erhob er sich, um den Drehgriff an dem handgemachten Dynamo zu betätigen. Kaum hatte das Summen eingesetzt, zeichneten tanzende Funken einen sichtbaren Widerschein um den gesamten Leichnam, der sich jäh aufsetzte und schlotterte, als wollte er die Leichenstarre abwerfen. Entweder das Surren der Maschine oder das heftige Pochen von Schmerls Herz - vielleicht war es aber auch das Klirren der Münzen, die aus den Augen des Toten geschleudert wurden - erschreckte den Säugling, der zu plärren begann und dadurch auch den Schrotthändler und seine Frau weckte. Nach einem kurzen Blick fiel Chana Bindl mit einem Entsetzensschrei in Ohnmacht, während Todrus mit hervorquellenden Augen seinen toten Sohn anglotzte, der wie ein Affe zu dem tonlosen Instrument wackelte, das der dämonische Leierkastenmann vor ihm spielte.
Er und seine Frau hatten den zufälligen Nutzen von Schmerls Erfindungen durchaus genossen, doch diesmal konnte der erzürnte Ramschkrämer dem Experiment des Jungen keine positive Seite abgewinnen, und er war nicht geneigt, ihm sein ungeheuerliches Verbrechen zu verzeihen. Und als sich unvermeidlicherweise die Kunde von Schmerls schändlichem Anschlag gegen Gottes Ratschluss verbreitete, ließen auch die anderen Juden von Schpinsk erkennen, dass sich ihre Geduld erschöpft hatte. »Denn ihm ein Greuel ist alljeder«, so zitierten sie das Fünfte Buch Mose zum Thema der Zauberer, »der dies tut.« Keine Woche nach seinem Sakrileg erhielt der Erfinder Nachricht von seiner kurz bevorstehenden Einberufung in die Armee des Zaren. Die zeitliche Nähe ließ auf eine gezielte Einflussnahme seitens der Gemeinde schließen, vor allem als Todrus auf seinen Einwand hin, dass sein Sohn einen Buckel hatte, von den Ortsbewohnern zu hören bekam, dass die Regierung bereit sei, in Schmerls Fall
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