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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Eisenbahnwaggons auf eine Landschaft geblickt, deren Schönheit sein gettogeprägtes Bewusstsein kaum zu erfassen vermochte: violette, mit rotem Mohn gesprenkelte Wiesen, aus denen beim Klang des ratternden Zugs Wolken von Finken aufflogen, Sonnenblumenfelder, Kirschgärten und Lindenhaine, die noch das Aussehen eines urzeitlichen Waldes bewahrt hatten. Wie umgedrehte Beiboote grenzten Bauernhöfe an Flüsse und Kanäle; aus Grotten ragten strohbedeckte Einsiedlerklausen, und in den weiten Ebenen sprossen Zwiebelkuppeln wie Pilze. Die Wege spulten sich vor seinen Augen ab wie die Fäden des sich auflösenden Regimes, aus dessen zerschlissenem Gewebe eine Million armer Juden gepurzelt waren. Sie, die Juden, verstopften die großen Straßen und die Bahnsteige, zogen spießrutenlaufend durch ungastliche Dörfer und schleppten Möbel, Schriftrollen und Federbetten mit sich wie eine zähe Brandung. Gelegentlich füllten sich ihre Reihen mit jugendlichen fußgejerß, die ihr Zelt auf dem Rücken trugen und Lieder sangen: »Zieht, jidelech, hinaus in die weite Welt …« Dann marschierte die zerlumpte Schar eine Weile im Gleichschritt mit und schnaufte tief durch, bis die jungen Leute sie überholt hatten. Danach schlurften die Füße wieder müde dahin.
    Es war die Fortsetzung eines Trecks, der in Ägypten begonnen hatte und dann durch Jerusalem und Sepharad weiter nach Osteuropa zog, wo er für ein kurzes Jahrtausend innehielt. Eine lange Plackerei, bei der viele auf der Strecke blieben, und selbst jene, die sich die Eisenbahn leisten konnten, waren nicht vor Demütigungen gefeit. So beobachtete Max zum Beispiel, wie Soldaten einen Jungen im überfüllten Waggon verspotteten und ihm die Schläfenlocken abschnitten. Wie resigniert er ausgesehen hatte, als wäre dieser Übergriff eine Initiation, die er ertragen musste, um Amerika betreten zu dürfen - denn alle (mit ganz wenigen zionistischen Ausnahmen) waren auf dem Weg ins Goldene Land.
    All dies beobachtete Max dank Salmans Unterstützung mit einer gewissen Distanz, was aber nicht bedeutete, dass die Fahrt keine Gefahren mit sich brachte. Die Schienenetappe, die nur wenige Tage dauern sollte, zog sich zwei Wochen hin. Immer wieder hielt der Zug an, und bewaffnete Beamte stiegen zu, um Dokumente und Pässe zu prüfen. (Die von Pisgats Helfern gefälschten Papiere bekräftigten eine Identität, mit der der Schmuggler noch immer sehr wenig verband.) Manchmal wurden sie von Ärzten begleitet, und diese drohten mit einer Leibesvisitation, die Max besonders zu fürchten hatte. Dann musste er nach seiner Brieftasche greifen und wieder etwas von der bescheidenen Summe hergeben, mit der ihn Pisgat zu diesem Zweck ausgestattet hatte. Doch diese Summe war begrenzt, und Max war bald klar, dass er bei dem Tempo, in dem er Schmiergeld zahlen musste, mit leeren Taschen ankommen würde. Dennoch musste er Pisgat dankbar dafür sein, dass er ihm die bürokratischen Hindernisse wenigstens teilweise aus dem Weg geräumt hatte, denn in jedem Depot und an jeder Grenze verlangte man von ihm, seine Papiere vorzuzeigen und den gefrorenen Leichnam zu erklären, den er - so seine Geschichte - zur Bestattung nach Übersee zu seinen trauernden Hinterbliebenen transportierte. Es war eine angstvolle Reise, bei der ständig argwöhnische Beamte mit Zloty und später Mark beschwichtigt und von ihrer Forderung abgebracht werden mussten, dass sich der junge Mann einer Desinfizierung und Quarantäne unterziehen möge. Kein Wunder also, dass Max bei der Ankunft des Zugs an der Küste nichts mehr hatte, um die Geheimnisse unter dem Eis und unter seinen zunehmend muffigen Kleidern zu bewahren.
    Am verrufenen Hamburger Hafen beobachteten Matrosen mit angemalten Dirnen im Arm und Fahrgäste elektrischer Straßenbahnen den Einzug der ungewaschenen Juden - die bis zum Ufer von einer Horde von Geldwechslern und falschen Fahrkartenverkäufern, Straßenhändlern und Schwindlern verfolgt wurden. In seinem kaum verständlichen Jiddisch versicherte Max den zuständigen Beamten einmal mehr, dass seine Papiere in Ordnung waren, dass der Transport des Verblichenen bereits genehmigt war und dass dessen eisumschlossener Zustand der Verwesung vorbeugte. Währenddessen dachte er die ganze Zeit: Asoj gejt, so sei es, ich habe getan, was ich konnte; sollen sie doch den Sarg samt seinem Inhalt beschlagnahmen. Sollen sie die Schmuggelware entdecken und mich in den Kerker werfen, mir ist alles gleichgültig. Oder waren das die

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