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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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eine Ausnahme zu machen. Der Schrottkrämer schimpfte, dass der Junge sich sein eigenes Grab geschaufelt hatte, doch da er ihn nicht dem Militär übergeben wollte, das ihn für immer von seinem Volk trennen und ihm jedes Judentum austreiben würde, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Dienste des Schmugglers Firpo Fruchthandler in Anspruch zu nehmen. Nach dem Verkauf von Schmerls Seelensauger und Himmelsaufzug an Ben-Zion Pinkas, den Wucherer des Orts, der durch eine Fülle jüngst verpfändeter Goldklumpen und Edelsteine reich geworden war, konnte die Familie Karpinski das Geld aufbringen, um Firpo zu engagieren. Der trinkfeste Schmuggler schleuste Schmerl - eingerollt in einen Teppich und versteckt unter Käfigen mit Pfautauben - über die Grenze nach Polen. Dort konnte er sich zur Küste durchschlagen und eine Schiffspassage nach Amerika buchen.
     
    Als die Kaiser Wilhelm in den Hafen von New York einlief, drehte Max Feinschmeker, der eingeklemmt im Gedränge der Einwanderer am Bug stand, den Kopf nach achtern. Er blickte zurück zu der titanischen grünen Dame und der schmalen Wasserstraße, die die breite Bucht mit der offenen See verband, um sich zu vergewissern, dass die Vergangenheit Abstand von ihm hielt. Mehrmals während der einmonatigen Reise von Lodz hatte er das Gefühl gehabt, dass ihn die Vergangenheit nicht nur eingeholt, sondern in Gestalt der Hure Jochebed, die manchmal nur sterben wollte, auch sein gesamtes Sein durchdrungen hatte. Ständig erinnerte sie Max daran, dass er keine Familie und keine Heimat hatte, dass seine geschundene Seele ihn nicht mehr vor den Kränkungen einer feindlichen Welt zu schützen vermochte. »Was soll neu sein daran?«, erwiderte Max, aber Jochebed war ein boshafter dibek, und mitunter hatte sie den jungen Mann sogar dazu aufgefordert, sich über Bord zu stürzen. Dann stellte er sich vor, im Kielwasser des Dampfers treibend zu beobachten, wie der Koloss immer kleiner wurde und schließlich am blutroten Horizont verschwand, während er selbst in einem dunklen und ausgesprochen unjüdischen Element versank. Eigentlich hatte diese Vision sogar etwas Tröstliches an sich, und es gab Momente, da Max in seiner Einsamkeit den Einflüsterungen des dibek hätte nachgeben können, wäre da nicht der greise Chassid in einem Eisblock auf einem Dreiviertelpud Belugastörrogen gewesen.
    Wegen des Vertrags mit seinem Gönner Salman Pisgat war Max verpflichtet, sein Leben zu erhalten. Er hatte geschworen, die Ware bei dem Agenten eines amerikanischen Finanziers abzuliefern, der trotz seines sagenhaften Reichtums nichts gegen ein gutes Geschäft einzuwenden hatte, vor allem wenn es kaum ein Risiko in sich barg. (Dem Schmuggelneuling wollte allerdings scheinen, als trüge ganz allein er das Risiko.) Bei Erhalt des Kaviars sollte ihm der Agent einen vereinbarten Betrag aushändigen, den Max sogleich vollständig nach Lodz zu telegrafieren hatte. Ihm stand kein Anteil zu, da seine Provision aus der Möglichkeit zu dieser Reise bestand, für die der Eismensch bereits genügend Geld vorgestreckt hatte. Sollte die Summe bis zu einem bestimmten Datum nicht eingetroffen sein, sähe sich der alte Pisgat gezwungen, Dritte zu verständigen, die weniger großmütig waren als er und deren Handlanger Max aufspüren und ihm die Milz herausreißen würden. Max wusste die geradlinige Schlichtheit dieser Abmachung zu schätzen und bewunderte den bescheidenen Eishausbesitzer für seine Verbindung zu Verbrechernetzwerken, deren Reichweite die Entfernung zwischen Europa und Amerika aufhob. So war es um Max’ Motive bestellt. Jochebed wiederum, wenn sie nicht gerade Selbstmordabsichten hegte, hatte eigene Gründe für die Reise, die sich um die Treue zu ihrem gefrorenen Erbe drehten und dem Schmuggler weitgehend verschlossen blieben. Dabei unternahm er durchaus Versuche, ihre Haltung zu ergründen, während er neben dem verstärkten Sarg und unter hängenden Rinderhälften in einem Güterwagen und später im gekühlten Frachtraum des Dampfers saß. Trotzdem bevorzugte Max seine praktische Herangehensweise: Er war beteiligt an einem für beide Seiten vorteilhaften Geschäft, das die Kosten für die Fahrt von Polen nach Preußen und schließlich übers Meer deckte.
    Ohne Salmans Hilfe wäre die Reise unmöglich gewesen - eine unvorstellbare Qual angesichts der zusätzlichen Last, die der Zedernholzkasten samt seiner verbotenen Fracht darstellte. So aber hatte Max in relativem Komfort aus

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