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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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war er etwas anderes. Wie in dieser Geschichte von Rabbi Elieser über das Land, das alle Länder enthielt, und in diesem Land gab es eine Stadt, die alle Städte des Landes enthielt, das alle Länder enthielt, und in dieser Stadt ein Haus, das alle Städte des Landes enthielt, das alle Länder enthielt, und in diesem Haus einen Mann, der all dies in sich trug - und dieser Mann war er, Bernie Karp, in seiner Entrückung. Nichts auf der Welt, die er seit sechzehn Jahren bewohnte, war so real wie seine extraterrestrischen Streifzüge; alles andere war unecht: sein Viertel, die Häuser mit den Säulengängen und Laternentürmchen im Plantagenstil, seine Familie. Nichts davon erreichte auch nur annähernd die Authentizität der Orte, zu denen er hinaufgeflogen war. Andererseits, das musste er zugeben, war nichts auf der Erde so real für ihn wie Lou Ella Tuohy. Aber bei seinen Exkursionen konnte ihn niemand begleiten, und selbst wenn er imstande gewesen wäre, sie mitzunehmen, würde er dem Planeten damit nicht eine kostbare natürliche Ressource rauben? Allerdings hätte er dieses Gefühl genauso wenig in Worte fassen können wie das Wesen seiner spirituellen Höhenflüge.
    Es mochte zwar sein, dass sie ihn im Irdischen festhielt (seit er ihr begegnet war, war es zu keiner Exkursion mehr gekommen), doch es war klar, dass man ihr daraus keinen Vorwurf machen konnte. Schließlich hatte sie in ihm nie jenes Verlangen entfacht, das ihn in den Tagen vor dem Auftauen des Rabbis verzehrt hatte. Das war gut so, denn der schulchan aruch erklärte unmissverständlich: Jeder, der auch nur den kleinen Finger einer Frau betrachtet, um sich an dem Anblick zu erfreuen, begeht eine Sünde. Nicht dass Bernie viel auf solche Verbote gab, aber wenn das Leben zufällig mit ihnen übereinstimmte, dann war es umso besser. Lou tendierte ohnehin dazu, ihr Aussehen eher zu maskieren als zu unterstreichen, selbst wenn sich ihre weichen Züge nie ganz verhehlen ließen und sie auch ohne die subtileren kosmetischen Kunstgriffe der populären Mädchen immer etwas Bezauberndes ausstrahlte. Versunken in edlere Angelegenheiten, empfand Bernie keinerlei fleischliche Begierde nach ihr, und da Derartiges nicht zwischen ihnen stand, fühlte er sich seit einiger Zeit immer entspannter in ihrer Gegenwart. Doch das war vor dem Nachmittag, an dem sie mit ihrer aufdringlichen Frage die freundliche Beziehung zwischen ihnen zerstört hatte. Und als ob sie nicht schon genug Schaden angerichtet hätte, lud sie ihn in ihrer aufreizend beiläufigen Art auch noch ein, sie zu Hause zu besuchen.
    Ihr Zimmer entsprach ziemlich genau ihrer Beschreibung, wenngleich es vielleicht nicht ganz so jenseitig war: die wild auf dem Boden verstreuten eselsohrigen Taschenbücher - einige in leicht gewagte Gewänder geschlagen -, die mit Reißnägeln an die Wand gepinnten Tänzerinnen von Matisse, die uralte Tigerkatze, deren enthaarter Schwanz einer Fischgräte glich, die Pfauenfedern in einem Einweckglas. Um hinzugelangen, hatten sie das Wohnzimmer durchquert, dessen Wände so dünn waren wie die eines japanischen Teehauses, wo ihre Mutter, eine verwelkte Frau mit Caprihose und Lockenwicklern, auf einem verschlissenen Sofa vor dem Fernseher saß. Während sie eine Spieleshow verfolgte, wiegte sie auf dem Schoß ein kleines Kind mit verklebtem Gesicht und stumpfen Augen. Lou stellte den vor Nervosität zappelnden Bernie vor, doch ihre Mutter ignorierte ihn einfach und kam sofort darauf zu sprechen, dass in einer Stunde ihre Arbeit bei FedEx begann. Lou nahm die Ankündigung mit einem knappen »Ja« zur Kenntnis, dann drängte sie Bernie in ihr Zimmer und schloss ab. Dort forderte sie ihn auf, auf dem Bett zwischen der Stoffkatze und einer Familie von Sockenaffen mit biegsamen Gliedmaßen Platz zu nehmen. (Er hätte sich lieber woanders hingesetzt, aber es gab keinen Stuhl.) Sie legte eine CD einer Sängerin mit französischem Akzent ein, deren näselndes Geträller klang, als wäre sie an Julius Karps vibrierenden Lehnsessel geschnallt. Bernie schaute zur Tür, als sich das Mädchen neben ihn setzte und die Spange eines stoffgebundenen Tagebuchs öffnete. Ohne lange Umschweife fing sie an, einen der Einträge in krakeliger Schrift vorzulesen.
    »Er kommt zurück zu mir aus den fernen Bezirken der Galaxie wie Rimbawd der Dichter, der mit einem Bein zu seiner Mama und seiner kleinen Schwester zurückgekehrt ist und ihnen von Wüstenwanderungen mit einer Karawane von Sklaven und

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