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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Lily, die sie über alles liebte und auf die sie aufpasste, wenn ihre Mutter in der Arbeit war. Ihr Zimmer beschrieb sie, als würde es in einer anderen Dimension existieren: ein Gewirr verstreuter Bücher, durch das man sich einen Weg bahnen musste wie durch die »heruntergefallenen Steine von Jericho«. (Manchmal ließ sie ihre Fantasie aufblitzen.) Sie zählte die Titel auf: Die Wolfsfrau, Die Prophezeiungen von Celestine, Also sprach Zarathustra, Die Nebel von Avalon; sie erwähnte die Diven, die sie bewunderte: Lotte Lenya, Avril Lavigne; die Zeitschrift, die sie abonniert hatte; und die Gedichte von Rumi und Arthur Rimbaud. Und dann, ganz nebenbei, als würde sie ihn nach der Uhrzeit fragen, lud sie ihn zu sich ein. Aber das war später.
    Fürs Erste rückte sie häppchenweise mit biografischen Details heraus, und Bernie schämte sich, sie nicht selbst danach gefragt zu haben. Ihm war klar, dass ihre vertraulichen Bemerkungen, die ihr sichtlich nicht leichtfielen, dazu dienten, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken, weil er von Natur aus nicht besonders gesprächig war. Aber sie war nun mal ein Mädchen, und so dramatisch sich sein Leben nach der Kernschmelze (sein Begriff) auch geändert hatte, die Kunst, mit Mädchen zu plaudern, hatte Bernie Karp nie erlernt. Sicher war Lou anders, und sie lief ihm sogar nach. Er hatte seine Jahre praktisch als Schlafwandler verbracht und seine kleinen Freuden, die er aus kurz aufflammenden, zeitweiligen Interessen bezog, stets für sich behalten. Nun hatte er durch unermessliches Glück eine andere Realität kennengelernt und war, wiewohl er keine Freunde hatte, erfüllt von dem Wunsch, das Erlebte mitzuteilen, doch es fehlte ihm das Vokabular dafür. Hin und wieder warf er ihr jedoch wie aus dem Nichts ein Schnipsel seiner Lesefrüchte hin:
    »Hast du gewusst, dass es neunhundertdrei Todesarten gibt? Den schwersten Tod erleidet man durch Diphtherie, das heißt Ersticken, und den leichtesten durch einen Kuss, was ungefähr so ist, wie ein Haar aus der Milch fischen. Das stammt aus dem Traktat berachot , und im mittelalterlichen sefer jezira steht zu lesen …«
    Sie blickte ihn erwartungsvoll an, doch wenn die Worte versiegten, weil sie sich abgelöst hatten von jeder emotionalen Verankerung, schlug ihre Vorfreude in Enttäuschung, ja sogar Verachtung um. So gingen sie von den letzten Tagen eines schiefergrauen Februars bis zu den Anfängen eines noch tristeren März meist schweigend durch Vorstadtstraßen, streiften durch den dichten Wald hinter der Schule und schlenderten am Ufer eines septischen Flusses dahin. Nachdem er seine Ausflüge zur Synagoge aufgegeben und die Pläne zur bar mizwe fürs Erste auf Eis gelegt hatte, saß Bernie mit ihr gelegentlich in einem Café in genau dem Einkaufszentrum, das der Rabbi mit seinem Tross verlassen hatte. Ihm war klar, dass Lou Opfer brachte, um mit ihm zusammen zu sein; er wusste, dass sie jetzt selbst von ihren glanzlosen Freundinnen geschnitten wurde und zu ihm in die Kategorie der Vollversager verbannt worden war. Er hatte das Gefühl, ihr etwas zu schulden, und genau dieses Gefühl machte ihn wütend. Zugleich war er jedoch dankbar, dass sie ihn nicht mehr ständig ins Kreuzverhör nahm. Nur einmal, als sie bei einem Kakao saßen und das Geschrammel eines allseits ignorierten Countrysängers mit strähniger Mähne über sich ergehen ließen, besaß sie die Kühnheit, ihm eine Frage zu stellen.
    »Was meinst du, wann du mal wieder deinen Körper verlassen wirst?«
    Es klang, als würde sie sich nach einem Zugfahrplan erkundigen. Bernie versicherte ihr, dass er es nicht wusste, dass alles der Auslöser für einen Absprung sein konnte - nur nicht sein Wille. Sichtlich unzufrieden erwiderte sie in leicht gereiztem Ton: »Gib mir Bescheid, wenn du spürst, dass der nächste kommt.« Dann tat es ihr leid, und sie fügte in weicherem, fast kokettem Ton hinzu: »Und wenn es so weit ist, kannst du mich vielleicht mitnehmen?«
    Die Frage überraschte und bestürzte ihn. Für wen hielt sie sich eigentlich? Und wenn er schon dabei war, für wen hielt er sie eigentlich? Reichte es nicht, dass sie in seinem spirituellen Leben herumschnüffelte, wollte sie jetzt auch noch physisch daran teilnehmen? Wie bei ihrer ersten Begegnung wollte er die Flucht ergreifen. Plötzlich spürte er ein tiefes Misstrauen gegen das Mädchen wie einen Stich ins Herz. Na schön, hier auf Erden war er also ein Hohlkopf, ein echter Kuni Lemel, aber dort oben

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