Der gefrorene Rabbi
wie wenn jemand ausspuckt, oder? Der richtige Name für eine Asoziale aus der Wohnwagensiedlung wie mich.« Wieder schien sie herausfordernd auf eine abfällige Bemerkung zu warten. Als diese ausblieb, setzte sie wie zur Rechtfertigung hinzu: »Er ist irisch. Der Name ist irisch.«
»Aha.« Mehr brachte Bernie nicht heraus und dachte: Das artet allmählich aus. Da schmueßte dieses Wesen mit ihm, eine Kreatur aus dem Süden, den er nur vom Hörensagen kannte. Aus dem verwahrlosten Süden der Teerpappenhütten und Farmpächter mit alkoholtrüben Augen und Topfscherbenzähnen. Selbst in einer Schule, in der die merkwürdigsten Gestalten herumliefen, war sie eine Außenseiterin. Aber sie war auch ein Mädchen. Sie hatte Beine, wenn auch schlaksige, und Brüste, wenn auch kaum entwickelt, und sicher auch, was der rebbe als ojzer mokem bezeichnet hätte, ein Duweißt-schon-Was. Außerdem wagte sie es, mit ihm zu reden, und forderte ihn heraus, es umgekehrt ebenfalls zu wagen. Und bevor er einschätzen konnte, wer von ihnen durch den Umgang miteinander stärker gefährdet war, schlenderten sie bereits, mirabile dictu, gemeinsam hinaus in den bewölkten Februarnachmittag.
Wäre sie unattraktiv gewesen, hätte er vielleicht nicht so gehemmt reagiert. Aber hübsch überwog prollig, und ihm war klar, dass sie ohne Weiteres bei den Halbpopulären Anschluss gefunden hätte, wenn sie gewollt hätte; in ihrem Fall war das Außenseiterdasein etwas, wofür sie sich entschieden hatte. Und während Bernie nie von sich aus auf sie zuging, tauchte sie immer wieder auf. Obwohl er sich sagte, dass sie eine Nervensäge war, die ihn von wichtigeren Dingen abhielt, empfand er ihre Aufmerksamkeit auch als schmeichelhaft. Mittags in der kackgrünen Kantine, wo er sonst allein vor halb gegessenen Fischstäbchen saß, oder nach dem Unterricht vor dem Fahnenmast, an dem sich einmal ein verwirrter Schüler aufgehängt hatte, trat sie auf ihn zu. Meistens war sie allein, aber ein- oder zweimal beobachtete er auch, dass sie sich von anderen Mädchen löste, die noch staatenloser waren als sie, um ihn einzuholen. Sie folgte ihm zur Bushaltestelle und bei einer Gelegenheit, als er (ihretwillen?) auf seine nachmittägliche Fahrt zur schul verzichtet hatte, sogar ein Stück auf dem Heimweg. Er dachte darüber nach, ob er sie direkt auffordern sollte, ihn in Ruhe zu lassen, überlegte es sich aber anders, weil er merkte, dass sie ihm fehlen würde. Dennoch fühlte er sich in ihrer Gegenwart nie richtig wohl.
Nach ihrer ersten Unterhaltung über seine Trancezustände wurde dieses Thema nicht mehr angeschnitten, aber Bernie wusste, dass sie nichts anderes im Kopf hatte. Warum sollte sie ihm sonst nachlaufen? Er spürte förmlich ihre Wachsamkeit. Sie wollte dabei sein, wenn er das nächste Mal in Ekstase geriet. Doch bei ihren sporadischen Gesprächen - beide schienen außerstande, neben dem Elefanten in ihrer Mitte ein anderes ergiebiges Thema zu finden - ging es meist um neutrale Angelegenheiten: das krankhafte Verhalten bestimmter Lehrer und Klassenkameraden, die völlige Sinnlosigkeit des Schulunterrichts.
Sie lächelte nie. Einer Laune folgend, machte Bernie sogar einmal den Versuch, sie dazu zu bewegen. »Zwei Kannibalen fressen einen Clown.« Es war der einzige Witz in seinem Repertoire. »Sagt der eine zum anderen: ›Hat der nicht einen komischen Geschmack?‹« Nichts, nicht das leiseste Kichern. Allerdings musste er zugeben, dass er nicht unbedingt der beste Witzerzähler war. Trotzdem hätte sie ihn nicht anschauen müssen, als hätte er einen fahren lassen.
Manchmal gab sie unaufgefordert etwas über ihre Vergangenheit preis. Sie war aus den Ozark Mountains in Arkansas nach Memphis gezogen, als ihre Mutter einen Verwaltungs-job bei Federal Express bekam, der sich dann irgendwie in Luft auflöste, sodass sie sich als Paketsortiererin durchschlagen musste. Lou hatte keine Ahnung, wo sich ihr nichtsnutziger Vater herumtrieb, und es interessierte sie auch nicht die Bohne. Sie vermisste die Berge und die Kiefernwälder, obwohl sie gern in der Nähe des Wolf River wohnte, eines Zuflusses des Mississippi, der für Bernie kaum mehr war als ein Abwassergraben. Ihre Familie lebte nicht in einem Wohnwagen, aber ihr Nullachtfünfzehnhaus in einer baumlosen Trabantenstadt auf der anderen Seite der Interstate war nicht geräumiger als ein mobiles Heim. Es war weitgehend leer, bis auf einige Mietmöbel und die Spielsachen ihrer kleinen Schwester Sue
Weitere Kostenlose Bücher