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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Geschlecht einer lebenden Frau zu erkunden, und er sich in der materiellen Sphäre gegenwärtiger als je zuvor fühlte, schäumte seine Seele über und sprudelte aus seinem Körper heraus. Bevor er sich endgültig der Ewigkeit anheimgab, registrierte Bernie mit tausendäugigem Blick aus der Stratosphäre das frustrierte Schrumpfen seines Verlangens und hörte die Worte des Mädchens:
    »Wenn ich dich schon nicht begleiten kann, dann bring mir wenigstens was mit.«

1908
    E he er hochkant aus der Wohnung seiner Tante Dobeh und seines Onkels Seinwel flog, hatte Schmerl Karp wenig Muße, die lärmenden Straßen der jüdischen East Side kennenzulernen. Dass er weggejagt worden war, machte ihm keine großen Sorgen, denn es hätte schlimmer kommen können. Zum Beispiel hätte er weiterhin der Gefangene von Verwandten bleiben können, die ihn als hebräischen Sklaven missbrauchten. Doch die Umstände des Hinauswurfs bestärkten ihn in seiner Auffassung, dass der Technik von Natur aus etwas Schlechtes anhaftete.
    Eine Zeit lang fand sich Schmerl damit ab, dass die zahllosen Aufgaben, die er an einem Arbeitstag zu erledigen hatte - ein Tag, der mit dem Morgengrauen begann und bis weit in den Abend hinein dauerte -, eine gerechte Sühne darstellten; sie waren die verdiente Strafe für seine hochmütigen messianischen Bestrebungen daheim in Schpinsk. Daher beschwerte er sich nicht, als er bereits nach der ersten Tasse Tee feststellen musste, dass er kein Gast im Heim der Ojsers war. Das kinderlose, cholerische Paar hatte ihn mit der Beteuerung begrüßt, dass er für sie der Sohn war, den sie nie gehabt hatten - dann setzten sie ihn prompt an die Arbeit. Gehorsam akzeptierte er seine Rolle als Küchenjunge und Ausputzer von Schmutzkübeln; er wischte Böden, holte Kohle, präparierte Rattenfallen, hängte Fliegenpapier auf und erschlug Kakerlaken, so groß wie Schildkröten. In dem Ausbeuterbetrieb, in den die Wohnung jeden Tag einschließlich des schabeß verwandelt wurde, fungierte er als eine Art Faktotum. Er nahm die Bündel entgegen, die regelmäßig von Knirpsen aus einem Akkordbetrieb im Norden der Stadt angeliefert wurden, und band die fertigen Hosen und Hemden zu Ballen zusammen, die für einen ebenfalls im Norden tätigen Händler bestimmt waren. Er ölte und wartete die Schlingenstichnähmaschinen, die sein stets an einem feuchten Zigarrenstummel kauender Onkel Seinwel an die ausgelaugten Arbeiterinnen vermietete, die bei Tagesanbruch mit ihren speckigen Brotzeittüten eintrafen.
    Obwohl er durch seine Pflichten weitgehend an die Wohnung gebunden war, beklagte sich Schmerl nie. Amerika war nicht nur verlockend, sondern auch beängstigend, und fürs Erste stellte die ungelüftete Behausung der Ojsers einen sicheren Hafen dar. Auf den Straßen, so versicherte ihm seine bärbeißige Tante Dobeh mit einem heiseren »Fej!«, herrschte die Fleischeslust, und diese heidnischen Vergnügungen standen in scharfem Widerspruch zum allgemeinen Elend. Doch die Stadt war auch ein Schaukasten der Wunder: Telegrafen, Wankelmotoren, Sicherheitskräne, elektrische Stühle, bewegte Bilder und erhöhte Bahntrassen, die das Goldene Land in ein revolutionäres neues Zeitalter beförderten. Von diesen Mirakeln hatte Schmerl zwar noch nichts persönlich zu Gesicht bekommen, aber er spürte sie; sein Puls pochte in der Frequenz, in der sie summten. Doch er schloss instinktiv, dass etwas fehlte an diesem Drang zur Mechanisierung der gesamten Schöpfung, und dieses Etwas war, nun, der jejzer tov, die gute Absicht. Die Maschinen Amerikas, so glaubte er, waren durchdrungen vom Moloch und nicht vom Heiligen Geist, der eher ein Phänomen der Alten Welt zu sein schien. Wundertätige rebbes, lamed wow’nikeß und alle anderen frommen Gestalten, die seine jugendliche Fantasie beflügelt hatten, waren im russischen Rayon zurückgeblieben. Und die Neue Welt bot auch keine natürliche Umgebung, die solche Seelen genährt hätte, von den Bewohnern der jene welt ganz zu schweigen; kaum ein Baum oder Grashalm war im Getto zu finden oder zumindest in jenem Teil, der vom Fenster an der Rivington Street aus zu sehen war. So blieb nur die von Menschen geschaffene Welt mit den gehetzten, zu gespenstischen Schatten abgemagerten Männern und Frauen, die sie bevölkerten. Einerseits konnte Schmerl sich gut vorstellen, dass er sich mit seinem Gespür für mechanische Zusammenhänge ausgezeichnet für diese Verhältnisse eignete; doch andererseits drängte es ihn

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