Der gefrorene Rabbi
nicht, seine Fähigkeiten an einem Ort anzuwenden, der ihnen keine Möglichkeit bot, sich in gottgefälliger Weise zu entfalten - selbst wenn ihm diese Fähigkeiten die Bewunderung des anderen Geschlechts eintragen sollten.
So schuftete er weiter für die Ojsers, zupfte Fäden aus den Hemdblusen, zerrte Matratzen wie widerspenstige Säufer zum Lüften auf die Feuertreppe; er lernte sogar, die acht Pfund schweren Bügeleisen zu bedienen, die sich mittels Zugfedern an Deckenhaken bewegen ließen. Dies hatte zur heilsamen Folge, dass (trotz der Rückgratverkrümmung) die drahtige Muskulatur seines Oberkörpers nach Art der wissenschaftlichen Krafttrainingsmethoden Eugene Sandows gestärkt wurde. Allmählich schnappte Schmerl auch Brocken der amerikanischen Sprache auf: cockamamie, mishmash, bumerkeh, ayeshdworry, zumeist wenn er die geflüsterten Unterhaltungen der ansonsten schweigsamen Angestellten belauschte. Es waren Männer und Frauen unbestimmten Alters, deren bleiche Gesichter und Arme von den Stoffen, mit denen sie hantierten, leberbraune und krapprote Flecken hatten. Wenn sie die erloschenen Augen von ihrer Arbeit hoben, dann nur, um einen Blick auf die Uhr zu werfen, deren Zeiger Tante Dobeh geschickt vor- und zurückbewegte, um den Ablauf zu regulieren.
Da sie seine Missbildung mit Beschränktheit verwechselten, nahmen Schmerls Tante und Onkel an, dass die Bedienung einer Nähmaschine die geistigen Fähigkeiten ihres Neffen überstieg, zumindest im Anfangsstadium seiner Ausbildung. Und wenngleich er die Funktionsweise des Mechanismus auf einen Blick erfasst hatte und auch bald die Nomenklatur - Schiffchen, Greifer, Spuler, Nadelstange, Nähfuß, Transporteur - beherrschte, war er tatsächlich nicht scharf darauf, knifflige Dinge wie Säumen, Versäubern und Abnähen zu erlernen. Dafür hielt er die Maschinen in Schuss, die so wohlgeformt waren wie die Waden einer Dame; liebevoll klappte er ihre gusseisernen Tretkurbeln ein, um die Fabrik für zwei Stunden wieder in eine Stube zu verwandeln, ehe die Ojsers (in identischen birnenförmigen Hemdhosen) zu Bett gingen.
Doch schon am nächsten Tag herrschte in dem Salon wieder emsige Aktivität - ein »Singer-Chor«, scherzte Onkel Seinwel, der ein unerbittlicher Zuchtmeister war und gewöhnlich nicht durch Humor auffiel. Niemand lachte. Niemand lachte, wandte den Kopf oder verließ unnötig den Arbeitsplatz. Um sich nicht dem Verdacht der Nachlässigkeit auszusetzen, nahmen sie sogar chronische Verstopfung in Kauf. Denn schon die kleinste unerlaubte Handlung konnte zu einer Lohnkürzung oder Schlimmerem führen. Und auch Schmerl durfte trotz seiner Blutsverwandtschaft - die die Ojsers bisweilen in Zweifel zogen - keine Bevorzugung durch seine Chefs erwarten.
Manchmal sah er das Romantische an seiner Plackerei. Er erinnerte sich an Jakob, der nach sieben Jahren schwerer Fron von seinem zukünftigen Schwiegervater geprellt wurde, an die Geduld, die Joseph in Ägypten bewies, ehe er seinen hohen Rang erlangte. Aber Schmerls Mühen dienten nur dazu, die Taschen seiner geizigen Verwandten zu füllen, und obwohl er Josephs Ehrgeiz ablehnte, stellte er nach einigen Wochen fest, dass ihm der eine oder andere subversive Gedanke durch den Kopf schoss. Das Schmalzfleisch und der zähe farfel von Tante Dobeh erschienen ihm immer unzureichender als Entlohnung für die stundenlange stumpfsinnige Schinderei, und auch die Tischgespräche, die sich meist um die Gewinnspanne drehten, die der Verkauf von Nadeln und Scheren an ihre Angestellten ergab, waren alles andere als amüsant.
Auch das Studium der Privatanzeigen im Forverts , der jüdischen Tageszeitung, die sein Onkel weggeworfen hatte, trug zu seiner wachsenden Rastlosigkeit bei. Dort stellten sich junge Männer als vorbildliche Ehekandidaten vor, alte Jungfern boten ihre Mitgift an, und Heiratsvermittler versprachen jedem angehenden Bräutigam einen »siwug min ha-schamajim«, eine Hochzeit im Himmel. War es nicht höchste Zeit für ihn, grübelte Schmerl in einsamen Stunden, über die Gründung einer Familie nachzudenken? Stand nicht im Talmud, dass ein Mann ohne Ehefrau ohne Freude und Segen war? Und der sohar erklärte sogar, dass ein Einzelner ohne Bindung noch kein ganzes Wesen ist. Doch solange er als Leibeigener für das aufreibende gescheft der Ojsers rackerte, würde er nie die Gelegenheit und die Mittel erhalten, um sich selbstständig zu machen.
Zuletzt suchten sich diese frustrierenden Gedanken ein anderes
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